Mal ehrlich: Hätte dieses Buch nicht fast ein Drittel schlanker sein können? Ich hätte nichts vermisst. Die größte Schwäche ist der verbale Ballast des Textes. Er ergeht sich in inhaltlichen Wiederholungen und unnötigen Ausschmückungen. Der Spagat zwischen populärwissenschaftlichen Darstellungen und Auszügen aus verschwörungstheoretischen Dokumenten ist nicht gelungen.
Der Autor schreibt an mehreren Textstellen, fast entschuldigend, dass er das Buch einem inneren Ruf folgend, spontan geschrieben hat und sich sein eigener Verstand mehrfach dagegen wehrte. Solche Autoabsolutionen gehören in den Prolog oder Epilog eines Buches aber nicht in den laufenden Text.
Der verratene Himmel: Rückkehr nach Eden von Dieter Broers gebundene Ausgabe, 112 Seiten Dieter Broers Verlag Ltd., 2014 (04.10.2014) ISBN-10: 3950381406 ISBN-13: 978-3950381405 22,4 x 14,8 x 2,6 cm EUR 19,99
Meine Erwartungen hat das Buch nicht erfüllt. Der Autor macht es nicht nur sich selbst schwer, sondern auch dem Leser, den umfangreichen und ohnehin sperrigen Stoff bis zum Ende aufzunehmen. Das letzte Drittel des Buches ist eigentlich nur für hartgesottene Esoteriker verdaulich. Der Rest des Buches ergibt allerdings ganzheitlich einen Sinn.
Dabei geht es so gut los! Titel und Cover sind so liebevoll gestaltet und vielversprechend. Die serifenlose Schrift ist auch bei wenig Licht noch gut lesbar, das Papier ist griffig und der Buchblock mit Lesebändchen ausgestattet. Die ersten Kapitel sind der Erkundung der physiologischen und psychologischen Grundlagen des Menschseins gewidmet.
Hier finde ich Vieles wieder, was mir auch an anderen Quellen zugeflossen ist: Von der Weltschau eines Krishnamurti bis zu den multidimensionalen Universen Burkhard Heims, eines verkannten deutschen Pysikers, den ich sehr verehre. Folgen kann ich auch der offensichtlichen Entwicklung unserer Gesellschaften von einem Gemeinsinn hin zur alleinigen Geltung des Egos, der damit verbundene ethische Verfall und der Verlust des göttlichen Selbst.
Auch ich sehe das System, ein Muster, eine Matrix der zunehmenden Fremdsteuerung der Menschen. Nur indirekt angesprochen wird in dem Buch die Rolle, die den Medien und den kapitalitischen Wirtschaftskräften dabei zukommt. Denn – und hier fängt mein Verstand an sich auszuklinken – der Autor beginnt nun mit Beweisführungen, als Quellen uralte gnostische Texte aus Ägypten heranzuziehen, in denen von mutmaßlich außerirdischen nichtkörperlichen Wesensheiten die Rede ist, die seit Jahrtausenden versuchen, uns ein „X für ein U“ vorzumachen, in dem sie uns die Welt durch eine Art Zerrbrille betrachten lassen, die alles in sein offensichtliches Gegenteil verkehrt.
Selbst wenn dies alles inhaltlich richtig sein sollte, gelingt es dem Text – trotz der einpeitschenden Wiederholungen – nicht überzeugend genug zu sein, um den verquasten Schlüssen zu folgen. Gegen Ende des Buches fällt für mich vieles, was am Anfang noch verstanden wurde, auseinander.
Der Leser wird allein gelassen mit dem Fazit, dass nur die Entdeckung des eigenen göttlichen Selbst eine Rettung vor der Matrix sein wird: Das Rendevouz mit uns selbst, die Entdeckung der wahren Liebe. Die einzigen konkreten Ratschläge für eine „Rückkehr nach Eden“ bestehen in Tipps zu Meditationen und der Einnahme psychoaktiver Substanzen, die einen erkennen lassen, wie die Welt wirklich ist und wohin unser Weg führt.
Menschen vergessen, Festplatten nicht Menschen fühlen, Maschinen nicht!
Das Buch ist Ergebnis einer mehr als zweijährigen Investigativrecherche zum Thema Künstliche Intelligenz. Ausschnitte daraus erschienen bereits vorab in Cicero, im Playboy und in der Welt am Sonntag. Eher zufällig kam es in den Stapel meiner Rezensionen, nachdem meine Frau es bei einer Buchvorstellung vom Autor geschenkt bekam und mir berichtete, dass es bald auf Chinesisch erscheinen wird: Also global relevanter Lesestoff, der mich sofort anzog. Außerdem liegt es wischen zwei anderen Bücher mit ähnlichem thematischem Querschnitt die ich gerade lese: Ein Science Fiction-Roman und eine eher esoterische Abhandlung. In allen geht es um nicht weniger als das Überleben der Menschheit.
Evolution ohne uns Wird künstliche Intelligenz uns töten? von Jay Tuck gebundene Ausgabe, 336 Seiten Plassen Verlag, Auflage: 1 (10. August 2016) ISBN-10: 3864704014 ISBN-13: 978-3864704017 14,4 x 3,5 x 22,1 cm EUR 19,99
Der Autor Jay Tuck ist US-Sicherheitsexperte, Journalist, Fernsehproduzent, Buchautor, Werbesprecher und Vortragsredner. In seinen 35 Jahren beim deutschen Fernsehen war Tuck investigativer Reporter für den NDR und WDR, Kriegsberichterstatter der Tagesschau und leitender Redakteur derTagesthemen. Heute produziert er weiterhin Sendungen und Technologiemagazine für das deutsche Fernsehen, den National Geographic Channel und Al Jazeera. Als anerkannter US-Kriegsdienstverweigerer zog er 1969 nach Deutschland, wo er während des Vietnamkrieges zwei Jahre lang einen zivilen Ersatzdienst in der Jugendarbeit in Hamburg ableistete. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen drei Kindern ebenda.
Spannend ist der Stoff von der ersten bis zur letzten Seite. Anhand von Meldungen und Berichten aus den vergangenen zwei Jahrzehnten und deren detaillierter Darstellung werden einem Schritt für Schritt die Augen geöffnet für ein großes Bild, das sich immer deutlicher abzeichnet: Der Gefahr, dass unsere Spezies von einer selbst geschaffenen allumfassenden global-vernetzten künstlichen Intelligenz bedroht wird. Die hochaktuellen Beispiele reichen von Abhöraktionen, Big Data, Cyberwar, Data Fusion, Drohnen- und Mikrowaffen, Handyüberwachung bis hin zu Smart Home und Smart City; dem bald in allen unseren Lebensbereichen agierendem Internet der Dinge.
Eine künstliche Intelligenz, uns um ein Vielfaches überlegen, ist nicht mit ethischen Grundsätzen ausgestattet. Sie wurde für andere Zwecke geschaffen. Ihr Ziele lauten: Effizienz, Geschwindigkeit, Wachstum, Exzellenz – ganz ohne moralische Bedenken. Diese Tatsache kann schnell zu einer unkontrollierbaren Katastrophe führen, die die gesamte Menscheit auslöscht. Viele kluge und wichtige Köpfe wie Stephen Hawking und Elon Musk warnen seit Jahren davor.
Der Autor lässt uns gegen Ende des Buches allerdings nicht allein mit dem Bild der Bedrohung; er nennt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die wir ergreifen können. Nicht nur als Einzelne, sondern als Gemeinschaft. Auf nationaler Ebene, in der EU, in den Vereinten Nationen, in Wissenschaftsgremien und vor allem im Verbund des Internet. Aber Vorsicht; die künstliche Intelligenz lauert überall!
Dass hier ein versierter Journalist am Werk war, wird schon nach den ersten Sätzen deutlich. Der Autor schafft es mit einfachen Worten, in relativ kurzen Sätzen und spannender Erzählstruktur das doch sehr komplexe Thema allgemeinverständlich rüberzubringen. An einigen Stellen wirken jedoch Alliterationen und mantrenhaftes Frage- und Antwortspiel ein wenig manieristisch. Häufige Wiederholungen von Inhalten geben den Eindruck, dass hier etwas eingetrichtert oder eingehämmert werden soll. Auch ohne inhaltliche und stilitische Einbußen hätte der Stoff auf 280 Seiten reduziert werden können.
Die gewählte Schrift ist sehr gut lesbar, der Einband funktionell, allerdings ohne Lesebändchen. Die Kapitel sind mit Unterkapiteln gut strukturiert. Inhaltlich fehlt es an Nichts zu diesem umfassenden Themenkomplex. Eine gute Ergänzung sind die Änhänge: Beispiele von Dialogen mit Künstlicher Intelligenz, Liste von Facebooks Gender-Bezeichnungen, Beispiele von Überwachungs-Tools, Tarnkleidung gegen Drohnenortung, die Google-Verfassung, einen offenen Brief globaler KI-Gegner sowie mehrere farbige Fotos.
Ich halte das Buch für das derzeit wichtigste deutschsprachige populär-wissenschaftliche Werk zum Thema Künstliche Intelligenz und kann es wärmstens empfehlen. Trotzdem rate ich es nur dann zu lesen, wenn man „gut drauf ist“. Bei mir hat es bisweilen depressive Stimmungen ausgelöst.
Ein guter Titel, der an einen bekannten Film anknüpft, ist schon mal eine gute Voraussetzung für den Erfolg eines Produktes. Hier handelt es sich eindeutig nicht um ein literarisches Werk, sondern um den Versuch einer interessanten Sammlung von Wörtern verschiedener Sprachen, die so eigenwillig einer bestimmten Kultur zugeordnet sind, dass sie sich in anderen Sprachen nur umschreiben oder erklären lassen.
Lost in Translation Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt Ella Frances Sanders aus dem Englischen von Marion Herbert gebundene Ausgabe, 112 Seiten DuMont, 2017 ISBN-10: 3832198490 ISBN-13: 978-3832198497 Originaltitel: Lost In Translation. An Illustrated Compedium of Untranslatable Words from Around the World 17 x 1,5 x 19,2 cm EUR 18,-
Da das Buch die deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originals von Ella Frances Sanders ist, können wichtige Konnotationen bereits bei der „Translation“ ins Deutsche verloren gegangen sein. Dies kann ich nicht beurteilen, da mir das Buch nicht vorliegt. Beurteilen kann ich allerdings die Erklärung zu den Begriffen von Sprachen, derer ich mächtig bin; beispielsweise Norwegisch.
Das norwegische Wort „forelsket“ bedeutet übrigens nichts anderes als das deutsche Wort „verliebt“. Hier zeigt sich die Schwäche der Übertragung eines Buches von einem Sprachraum (Englisch) in einen anderen (Deutsch). Im englischsprachigen Original ergibt die Erklärung des norwegischen Wortes einen Sinn, da es im Englischen keine griffige Entsprechung (being in love) für das Adjektiv „verliebt“ gibt.
Englische Sprachen wie US-Amerikanisch, Irisch, Schottisch, australisches- und kanadisches Englisch sind komplett unterschlagen, was wahrscheinlich dem englischsprachigen Original zu schulden ist; obwohl es in diese Sprachräume auch unglaublich interessante lokale und regionale Wortschöpfungen zu bieten haben.
Ich hätte mir auch ansonsten eine größere Sprachenvielfalt gewünscht. Einige Sprachen wie Ungarisch, Kroatisch, Litauisch, Estnisch, Philippinisch, Thai und Chinesisch tauchen gar nicht auf, andere wie Norwegisch, Schwedisch, Arabisch, und Japanisch immer wieder. Am Ende des Büchleins gibt es eine eigene Abteilung von deutschen Wörtern wie „Kabelsalat“. Das deutsche Wort „Waldeinsamkeit“ wird zwar Heinrich Heine zugeschrieben, hat seine Wurzeln jedoch in spirituellen Mönchspraktiken des Buddhismus und Hinduismus. Hätte mir doch mal jemand die Einzigartigkeit des urdeutschen Begriffs „Heimat“ erklärt!
Das Layout und Design, sowie die durchaus gelungenen Illustrationen in dem Büchlein sind die halbe Miete. Allerdings ist die handschriftliche Typografie an manchen Stellen eine Zumutung. Das Lesen des Vorworts in kleiner dünner weißer Schrift auf hellblauem Fond bedarf einiger Überwindung (siehe Foto). Aber wer liest schon ein Vorwort; außer den Rezensenten!
Durchgeblättert hat man die 112 Seiten in wenigen kurzweiligen Momenten. Geeignet ist das gebundene Buch in seinem handlichen Format als Verlegenheits-Mitbringsel. Allerdings nur, wenn man nicht so genau auf’s Geld achten muss: Mit EUR 18 ist es eindeutig überteuert.
Richtig geärgert hat mich, dass an zwei Stellen des Buches der Buchblock beim Beschneiden nicht richtig ausgerichtet war, so dass jeweils zwei Seiten mit einer Art Eselsohr zusammenhängen (siehe Fotos). Ich werde das jetzt nicht mit der Schere auseinander schneiden, sondern zum Buchhandel gehen und mir ein anderes Exemplar geben lassen …
Gerade eben habe ich das Buch zugeschlagen. Ich habe an vielen Stellen herzlich lachen müssen und am Ende flossen die Tränen. Das können Sie mir glauben! Man muss sich überhaupt gar nicht für Fußball interessieren, um von den Geschehnissen rund um diese Dorfgemeinschaft im tiefsten Mittelengland der 1970er Jahre in den Bann gezogen zu werden. Nun gut, es schadet wiederum nicht ein Fußball-Fan oder -Spieler zu sein, denn hier wird ein Sport geschildert, so wie er heute wohl kaum noch zu finden ist. Denn die Mannschaft, die sich hier im Laufe der Geschichte formiert, ist alles andere als professionell im heutige Sinne. Es ist zwar ein abgehalfterter ehemaliger Profi darunter, jedoch macht den Unterschied aus, dass die Protagonisten es nicht für das liebe Geld tun, sondern für die Ehre ihres Dorfes. Und dafür werden alle, aber wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt … bis zum erhofften großen Erfolg.
Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten J.L. Carr aus dem Englischen von Monika Köpfer gebundene Ausgabe, 192 Seiten DuMont, 2017 ISBN-10: 3832198547 ISBN-13: 978-3832198541 Originaltitel: How Steeple Sinderby Wanderers won the FA Cup 12,5 x 2,2 x 20,5 cm EUR 20,-
Da Montag gerade der Terroranschlag in Manchester verübt wurde, bei dem viele Konzertbesucher, vor allem Kinder und Jugendliche ums Leben kamen, zitiere ich einen Taxifahrer, der wie viele andere, nach der Explosion kostenfrei Überlebende in Sicherheit brachte: „Wir sind wie Leim. Wir halten zusammen wenn es zählt.“ Genau dieser Geist wird auch in dem Buch J.L. Carrs an vielen Stellen deutlich. Wer sich dieser, teils amüsanten, teils schwermütig-melancholischen und dann wieder schenkelklopfend-urkomischen Erzählung entziehen kann, ist selbst Schuld ein kleines Stück Weltliteratur zu verpassen.
Ich könnte jetzt eine kurze Inhaltsangabe schreiben und viele typische Textstellen aus dem Buch zitieren, um diese Rezension anzureichern. Doch das lesen Sie vielleicht besser bei anderern Rezensenten, die das ausführlicher machen. Mit auf den Weg geben möchte ich Ihnen nur die Regel Nr. 1, die der Vordenker und strategische Lenker dieses ungewöhnlichen Erfolgs, der gebürtige Ungar und Doktor der Philosophie Dr. Kossuth seinen „Recken“ mit auf den Weg gibt: „Man kann den Ball ohne Weiteres spielen, ohne auf seine Füße zu schauen. Frauen müssen beim Stricken auch nicht auf ihre Hände gucken.“
Mir hat dieses Buch fast besser gefallen als „Ein Monat auf dem Land“ vom gleichen Autor, das ich im vergangenen Herbst das Vergnügen hatte zu lesen. Fast unnötig zu sagen, dass auch in dem vorliegenden Büchlein von 190 Seiten die Sprache zwar verständlich einfach und doch vielseitigst wortgewaltig und filigran ist. Der Übersetzerin Monika Köpfer ist es gelungen, das englische Original so treffsicher zu übersetzen, dass von der typisch britischen Atmosphäre, dem scharfen Wortwitz aber auch der Wehmut gar nichts verloren geht.
Die mysteriösen Geschichte einer Kellnerin, die ausgerechnet an ihrem Geburtstag, ganz unerwartet einen Kollegen vertreten muss und dabei Gelegenheit bekommt, den uralten und sonst unsichtbaren Besitzer des Hotels und italienischen Restaurants kennen zu lernen und von ihm mit bsonderer Aufmerksamkeit bedacht zu werden, nämlich einen wie auch immer gearteten Wunsch zu äußern, den der alte Mann ihr erfüllen wird.
Birthday Girl Haruki Murakami Illustrationen von Kat Menschik aus dem Japanischen von Ursula Gräfe gebundene Ausgabe, 80 Seiten DuMont, 2016 ISBN-10: 383219858X ISBN-13: 978-3832198589 Originaltitel: Basudei-garu 14,3 x 1,2 x 21,3 cm EUR 16,-
Ein Büchlein über das Wünschen. Eine Parabel, die um die Tatsache kreist, dass auch wenn einem alle Wünsche erfüllt werden, man nie mehr werden kann als man ist. Die vielen Illustrationen sind jeweils ganzseitig dem Text gegenübergestellt. Angelegt in dem typischen Stil der Illustratorin, der an die Siebdrucke der Pop-Kultur der 70er Jahre erinnert; einfarbige Flächen und Linien werden collageartige ineinander verschränkt. Am besten hat mir die Illustration auf Seite 32 gefallen (siehe Foto).
Von allen Büchern, die Murakami von Kat Menschik illustrieren ließ, meiner Meinung nach das Beste. Mag es an der Geschichte selbst liegen, an den zauberhaften Illustrationen in rot, rosa und orange. Besonders gefallen hat mir auch der Epilog, in dem Murakami über seinen eigene Geburtstag sinniert sowie über seine Bewunderung für und Verbundenheit mit dem amerikanischen Schriftsteller Jack London, der am gleichen Tag wie Murakami Geburtstag hatte.
Ein bibliophiles Kleinod und nettes Mitbringsel für Menschen, die nicht viel Text brauchen um glücklich zu werden. Wie auch die anderen Bilderbücher Murakamis jedoch keine Lektüre um das Werk des Autors kennen zu lernen. Seine Romane sind nochmal wieder eine ganz andere Geschichte.
Insekten besitzen drei Paar Beine. Richtige Blutgefäße haben sie keine, uns während die Knochen sonst innen liegen, liegt ihr Skelett außen, sie schwimmen und fliegen, ihr dreiteil’ger Leib ist behaart oder kahl, ihr Herz liegt hinten, für sie so normal, wie dass sie Millionen von Eiern legen, und atmen indem sie sich rhythmisch bewegen. Die Fühler werden fürs Riechen gebraucht, die Füße zum Schmecken ins Essen getaucht – und wirklich erstaunlich, was ihnen so schmeckt: Eine Blume oder ein anderes Insekt, mal werden Mäntel und Holz benagt, ein Teppich zerkaut oder Menschen geplagt … Sie fressen, wobei sie selbst uns nicht verschonen, und zählen ganz sicher hundert Trillionen! Alles wird täglich von ihnen zersiebt, ein Wunder, dass es die Welt noch gibt!
Ethel Jacobson, Die Welt der Insekten
Vor etwa einer halben Milliarde Jahren begann eine schleichende Revolution. Auf dem schlammigen Grund eines urzeitlichen Ozeans machte sich eine Gruppe ebenso seltsamer wie wunderbarer Kreaturen daran, die Welt zu erobern. …“ so beginnt das Kapitel „Insektenimperium“ des Buchs mit dem Originaltitel „A Buzz in the Meadow“.
Wenn der Nagekäfer zweimal klopft Das geheime Leben der Insekten Dave Goulson, Sabine Hübner – Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (22. Februar 2016) Gebunden, 320 Seiten, EUR 19,90 ISBN-13 978-3446447004
Diesem Buch merkt man an, dass der Autor nicht nur Spaß an seiner Forschung hat, sondern diesen Spaß – zusammen mit fundierter Information – auch bis in die kleinsten Details zu vermitteln weiß. Schon sein Hummelbuch „Und sie fliegt doch“, hat mich so sehr fasziniert, dass ich seitdem sehr viel wacheren Auges durch die Natur und vor allem Stadtnatur gehe.
„Hummelpapst“ Dave Goulson – von Kindesbeinen an Naturschützer und Verhaltensforscher – ist einer der weltweit versiertesten Insektenexperten. Der englische Professor für Biologie hat sein ganzes Leben dem Schutz der Insekten und der Wichtigkeit von Biodiversität gewidmet. Auf seinem Bauernhof in Frankreich renaturiert er ehemals landwirtschaftliche Flächen und schafft in seiner Freizeit insektenfreundliche Biotope.
„Ich habe Chez Nauche im Jahr 2003 gekauft … Das Haus wurde vor ungefährt 160 Jahren gebaut … durch die Nachlässigkeit des Vorbesitzers … wimmelt das Haus und die angrenzenden Gebäude von Leben. Viele – reagieren entsetzt, wenn sie eine Assel auf dem Teppich oder eine Ameise in der Küche entdecken. Von dieser Furcht sollte man sich in Chez Nauche schleunigst verabschieden, sonst ist ein Nervenzusammenbruch vorprogrammiert. Das Haus ist über die Jahrzehnte praktisch mit seiner Umgebung verschmolzen.“
Das von ihm gegründete „Bublebee Conservation Trust“ informiert und animiert Menschen in aller Welt zu Renaturierungsmaßnahmen, die helfen sollen, das Aussterben der bestäubenden Insekten zu verhindern. Beim begeisterten Verfassen von Newslettern für seine Sache entdeckte er seine Lust am Schreiben. So entstand „A Buzz in the Meadow“ – der Originaltitel dieses Buches.
Im Plauderton erzählt er in Episoden – die mit einem amüsanten kurzen Protokoll seiner morgendlichen Laufrunden in der Umgebung des französischen Bauernhofes beginnen – von dem uns meist unbekannten Verhalten so unterschiedlicher Spezies wie Schmetterlingen, Gottesanbeterinnen, gemeinen Schmeißfliegen, Wespen und Zweiflüglern – aber auch von Molchen, Treibhaus- und Wiesenblüten.
Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise durch die unglaublich vielfältige Welt der Insekten, deren Entstehungsgeschichte und Klassifizierung, extreme Verhaltensformen wie sexuellen Kannibalismus aber auch Vererbungslehre: Gendrift und Selektion am Bespiel von Schmetterlingen und letztendlich das arterhaltende Zusammenwirken zwischen Pflanzen und Tieren.
Mit klaren Worten beschreibt er komplexe Zusammenhänge: „Der Vorteil der Metamorphose besteht darin, dass sie eine Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Stadien des Lebenszyklus ermöglicht. Der Körper der Larve wurde durch die Evolution immer weiter auf möglichst schnelles Wachstum hin optimiert, während er vollkommen andere Körperbau des adulten Tieres für die Paarung ausgelegt ist. …“
Mitunter hat man den Eindruck, dass die erzählerischen Abschweifungen endlos sind, jedoch gelingt es ihm nicht nur immer wieder den roten Faden zu finden, sondern dem Leser erschließt sich nach und nach, was dem Autor mit diesem Buch am meisten am Herzen liegt: nämlich uns die Augen zu öffnen, für die allumfassenden Zusammenhänge in der uns umgebenden Natur.
Dies besonders in den letzten Kapiteln des Buches, die auf mich wie ein erschreckender Mahnruf wirken und sich vom Rest des Buches grundlegend unterscheiden. Zuerst wollte ich das Buch weglegen, so sehr war ich geschockt. Jedoch ist es wichtig zu begreifen, dass der Mensch das effektivste Raubtier auf unserem Planeten ist und seit Zigtausenden von Jahren andere Spezies verdrängt und ausrottet.
„Viele unsere Legend erzählen von Drachen und Ungeheuern, Elfen, Kobolden und Trollen. Das sind keine Mythen – wir haben wirklich mal in einer Welt gelebt, die voll solcher Wunderwesen war. Was ist all diesen Kreaturen widerfahren? Warum sind sie alle in einem relativ kurzem Zeitraum ausgestorben? Die Antwort lautet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass wir sie getötet und aufgegessen haben. Unsere 80000 Jahre währende Reise war eine einzige kulinarische Odyssee.“
Nur kann der Mensch nicht ohne den Menschen – und schon gar nicht ohne die Natur und die anderen darin lebenden Spezies existieren. Das beginnt bei Pflanzen, Algen, Bakterien und Mikroben und hört bei Wirbellosen und Insekten auf. Vielfach hingewiesen wurde auch von anderen bereits auf das Bienensterben und die damit verbundenen Gefahren für die Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen.
„Ich behaupte keine Sekunde lang, dass Neonicotinoide für Bienen, Hummeln oder andere wild lebende Tiere heutzutage das einzige Problem darstellen. Der Rückgang der Bienen ist zweifellos eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, vermutlich gehören dazu Seuchen, die Varroa-Milbe (im Fall der Honigbienen), der Mangel an Blüten, die abwechslungsarme Ernährung und schließlich die Auswirkungen verschiedener Pestizide – ein folgenschwerer Faktor von Stressfaktoren.“
Man sollte den Beteuerungen des Marketings nicht auf den Leim gehen, zu glauben, dass Gentechnik, Chemie und Pharma immer wieder verträgliche Lösungen bereitstellen werden, denn bisher haben alle Effizienzmaßnahmen der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie nur dazu geführt, dass immer prekärere Verhältnisse entstanden. Biodiversität – die Vielfalt von Arten und Lebensräumen – in Kombination mit integriertem Pflanzenschutz ist der einzig nachhaltige Weg.
Obwohl das Buch gänzlich ohne Bilder auskommt, meine ich, dass es mit seinem lockeren Erzählstil auch für Jugendliche geeignet ist. Es wird einerseits Vielfalt und Komplexität vermittelt, andererseits aber auch Mut gemacht „die Welt zu retten“. Einige längliche Passagen mit Studien habe ich überblättert. An einigen Stellen schienen mir – übrigens auch im englischsprachigen Original – technische Beschreibungen nicht nachvollziehbar genug. Trotz dieser kleinen Mängel hat das Buch einen festen Platz in meinem Regal gefunden.
Es als „Büchlein im Postkartenformat“ zu bezeichnen, trifft nicht ganz den Kern. Dieser schneeweisse, bibliophile Ziegelstein wiegt fast ein ganzes Pfund (482g) und ist mit seinen mehr als 500 Illustrationen nicht minder inhaltsschwer. Das Layout ist liebe- und sinnvoll zurückhaltend gestaltet und gibt den einzelnen Bildern den erforderlichen Raum zum Atmen. Bereits die von Luc Sante sehr gut geschriebene und von Stefan Kleiner nicht minder gut übersetzte Einleitung gibt einen guten Vorgeschmack auf das, was einen auf den folgenden Seiten erwartet: ein Meisterwerk des grafischen Storytelling – angesiedelt irgendwo zwischen Cartoon, Comic-Strip und Droodle. Minimalistische Strichzeichnungen, die kleine Geschichten erzählen. Mich erinnern sie unmittelbar an den deutschen Klassiker „Vater und Sohn“ von Erich Ohser alias e.o.plauen.
Erzählende Bilder Sequenzielle Zeichnungen aus dem NEW YORKER Richard McGuire aus dem Englischen von Stefan Kleiner DuMont, 2016 gebundene Ausgabe, 584 Seiten 10,3 x 4,3 x 15,5 cm EUR 25,-
Urspung dieser gezeichneten Geschichten sind sogenannte Vignetten, die Richard McGuire (RMG) seit vielen Jahren in der Zeitschrift NEW YORKER exzellent ausführt. Vignetten sind grafische, dekorative oder illustrative Elemente, die aus den analogen Zeiten des Journalismus stammen und am Rande, zwischendurch oder am Ende eines Artikels die Rolle eines Auflockerers oder Lückenfüllers spielten. Heute haben sie sich zu einer seltenen Kunstform entwickelt. Die genialistische Reduktion des Dargestellen auf das Wesentliche lässt Grafiker und Zeichner vor Neid erblassen; hier ist ein Meister am Werk. Puristisch und voller Andeutungen und magischer Vibration im Weißraum, zwischen den einzelnen Strichen. Illustrationen und Logos aus Linien gleicher Stärke, sogenannte Monolines sind derzeit en vogue.
Manche der Geschichten kommen direkt aus dem Alltag mit seinen grotesken Situationen. Sie erinnern an die Standbilder eines Daumenkino. Andere sind konzeptionelles Kopfkino und in sich so stimmig und abgeschlossen, dass sie ohne den umgebenden Kontext auskommen und einen ganz besonderen Augenblick wiedergeben. Meine Lieblinge sind die Stilleben und „plauderhaften Gegenstände“, „Auf dem Tisch“, „Vogelkäfige“ und „Oben ist es laut“. Die Geschichten „Last“ und „Geburt“ am Ende des Buches überraschen durch einen Stilwechsel: Die erste in Grautönen mit räumlich dargestellten Objekten, die zweite in einer Mischung aus Grautönen und Strichillustration. Beide sehr gelungen!
Wenn Sie jemandem mit grafischem Gespür und feinsinnigem Humor eine Freude machen wollen, könnte dies Buch das richtige Mitbringsel sein.
Ein sommerheller Lichtblick in der dunklen Jahreszeit
Bücher kommen nie zufällig zu mir. Dieser Roman wurde mir kurz vor einem längeren Aufenthalt in China zugespielt. Zuerst zögerte ich das Buch mitzunehmen, weil ich gern immer Lektüre dabei habe, die eine – wie auch immer geartete – Beziehung zu dem Ort hat, an dem ich mich befinde. Im Skiurlaub lese ich beispielsweise gern über historische und oft tragische Polarexpeditionen.
Ein Monat auf dem Land von J. L. Carr ins Deutsche von Monika Köpfer DuMont, 2016 Gebunden, 208 Seiten ISBN 978-3832165185 Originaltitel: A Month in the Country 9 x 1,7 x 14,4 cm EUR 12,-
Was sollte also ein auf der britischen Insel spielender Landroman mit Ostasien zu tun haben? Um so überraschter war ich, den Protagonisten der Erzählung vor fast hundert Jahren in einer ähnlichen Situation zu finden wie ich heute: Auftragsarbeit fern der Heimat, einfache Unterbringung, keine Freunde und Bekannte, nur neue Menschen und Umstände. Ein kreativer Handwerker, der seine Arbeit liebt und kontempliert und sich im überreifen und ausklingenden Sommer sehr nach einer Frau sehnt und sich verliebt, während zu Hause eine unstete Ehefrau auf ihn wartet … oder auch nicht.
Dem Autor gelingt es, mit einer sehr persönlichen Sprache die verzauberten Momente im Leben des dem Inferno des Ersten Weltkrieg entronnenen 20-jährigen Bildrestaurators zu schildern. Aus der Erzählerperspektive haben wir Teil an einer Zeit die ach – längst passé, aber immer noch in unseren Erinnerungen weiterlebt. „Von der Vergangenheit möbliert, luftdicht, reglos, gleich längst vertrockneter Tinte in einem vor langer Zeit niedergelegten Füllfederhalter.“
Eine großartige Übersetzung ins Deutsche. Allerdings hätte ich das Buch auch gern im englischen Original gelesen. Statt einer umfassenden Rezension möchte ich mich lieber auf ein paar Zitate beschränken, die typische Sprache und Stimmungen aus dem Buch wiedergeben…
„Ihr Hals war bis zum Ansatz ihres Busens unbedeckt, und ich fühlte mich augenblicklich an ein Botticelli-Gemälde erinnert – nicht an die „Venus“, sondern an die „Primavera“. Teils lag es an ihrem wunderschönen ovalen Gesicht, teils an ihrer grazilen Art, daran, wie sie dastand. Ich hatte genügend Gemälde in meinem Leben gesehen, um wahre Schönheit zu erkennen, aber niemals hätte ich damit gerechnet, ihr an diesem abgelegenen Ort zu begegnen.“
„Aber zum Glück war das hier nicht Bagdad, und er konnte sie nicht dazu zwingen, ihr Gesicht in einem Schleier zu verhüllen, sodass andere Männer wenigstens noch bewundernde Blicke auf seinen rehäugige Angetraute werfen konnten.“
„Hier, nehmen Sie.“ Sie reichte mir eine Blüte … Diese Rose, Sara van Fleet … Ich habe sie noch immer. Zwischen zwei Buchseiten gepresst. … Eines Tages, auf einem Flohmarkt, wir ein Fremder sie finden und sich über sie wundern.“
“ Der Mond war aufgegangen, eine leichte Brise ließ die Schatten der Bäume auf dem Gerstenfeld erzittern, das weiß wie ein See dalag.“
„Danach zogen die meisten Männer ihre Jacken aus und enthüllten ihre Hosenträger sowie die daran befestigten elastischen Schlaufen ihrer wollenen Unterhosen, und sie verblüfften ihre Kinder, weil sie herumalberten wie große Jungen. Die verliebten Pärchen sonderten sich ab, die Frauen saßen im Gras und plauderten ausgiebig. Und so verging mit Essen, Trinken, Dösen, Sich-Lieben der Tag, bis am Abend die Pferde von ihrer Weide geholt und wieder eingespannt wurden. Dann, als der erste Stern am Firmament erschien und Schwalben über dem Farngestrüpp kreuz und quer hin und her schossen, holperte unser Wagen wieder gemächlich von der Hochebene … ins Tal hinab …“
„Die Vorgärten der Cottages quollen über vor Majoran und Rosen, Margeriten und Bartnelken, und nachts verströmten die Levkojen ihren betörenden Duft. Das in Grün getauchte Tal lag morgens reglos da, die flimmernde Mittagshitze dämpfte das Rattern der gen Norden und Süden fahrenden Züge, während sich kleine Schattenpfützen unter den Bäumen sammelten.“
„Bevor ich mich schlafen legte, trat ich nochmals ans Fenster. Und tatsächlich – der erste Herbsthauch lag in der Luft, ein Gefühl der Verschwendung, des Sehnens, Nehmens und des Bewahrenwollens, bevor es zu spät ist.“
Die Lektüre des Büchleins kann man wunderbar auf einer dreistündigen Bahn- oder Flugreise schaffen. Ich habe mir jedoch mehr Zeit gelassen, und es in mehreren Etappen um so genussvoller gelesen.
Zuerst einmal ist das Buch eine Hymne auf Island – außerdem Psychogramm, Sozialstudie, Reisereportage und Kulturführer in Einem. Mit der Autorin verbindet mich der gleiche Stadtteil in Hamburg und die Faszination für den kleinen nordischen Inselstaat. Sie überzeugt durch intime Kennerschaft und glühende Leidenschaft. Gut geschrieben, mit streckenweise poetischem Wortwitz und vergleichsweise wenigen seichten Stellen oder Längen. Die Schrift ist gut lesbar, das Papier angenehm in der Haptik. Ein leichter Lesegenuss für jede Tages- und Jahreszeit. Ich habe die Lektüre übrigens zu einer Zeit begonnen, die genau mit den beiden Besuchsantritten der Autorin zusammenfällt: Anfang April…
Wo Elfen noch helfen Warum man Island einfach lieben muss von Andrea Walter Diederichs, München 2011 Broschiert, 208 Seiten ISBN 978-3424350654 EUR 14,99
Die Insel aus Eis und Feuer ist ein Land der Extreme und Extremisten. Die Isländer sagen von sich, dass sie immer den ganzen Weg gehen. Sie sind – mitunter gesellige – Eigenbrödler, die davon überzeugt sind, dass sich die Welt um ihre Insel dreht. Den Mittelpunkt der Erde hat ja bereits Jules Verne unter Island verortet – und solange man selbst daran glaubt, ist es wahr! Über Jahrhunderte haben sie eine kulturelle Eigenständigkeit entwickelt, die in Europa ihresgleichen sucht. Dies fasziniert möglicherweise gerade die Deutschen am meisten, weil Island so vieles hat, was hier verloren gegangen zu sein scheint. Unter anderem das Gottvertrauen und die Gelassenheit.
Man erfährt in dem Buch, warum man sich bei abendlichen Exzessen wortlos davon schleicht, wenn man nicht mehr kann und warum auch am nächsten Tag keine Nachbesprechungen hierzu stattfinden. Warum Regenschirme und zweiradgetriebene Fahrzeuge keine Daseinberechtigung haben und was Matthias Rust und Carlos der Schakal gemeinsam haben. Warum die Isländer eine niedrige Sparquote haben und angstfrei aus dem Vollen schöpfen. Man findet weiter heraus, was nordische Sagen mit Paartherapie zu tun haben und warum Isländer schrullige Museen gründen. Weiter, dass Island die meisten Literaturnobelpreisträger pro Kopf hat – was nicht verwundert, wenn fast jeder Isländer schon mal ein Gedicht oder eine Geschichte veröffentlicht hat.
Ausflüge über die Insel führen die Autorin zu wahren Naturwundern und sagenhaften Landschaften in denen der Zauber von Elfen und Gnome lebendig zu werden scheint. Sie besucht einem Garten Eden und beheizte Meeresbuchten. Sie kommuniziert in heißen Pötten – dem isländischen Pendant zur Sauna – und findet heraus, warum Krimis auf Island ein relativ junges Genre sind und wie die Gefängnisse auf einer Insel funktionieren, wo sich alle Bewohner duzen und die Demokratie vor Jahrhunderten erfunden wurde – unabhängig von den Griechen.
Der sehr gewöhnungsbedürftigen ur-isländischen Gastronomie ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Abgerundet wird das Buch durch Erlebnisse bei Interviews isländischer Promis, wie der ersten weiblichen Präsidentin eines europäischen Landes und dem aktuellen Bürgermeister der Hauptstadt, der bekennender Anarchist, landesweit bekannter Komiker und Begründer der Spaßpartei ist.
Der zweite Teil des Buches beschreibt ihre Rückkehr auf die Insel im vergangenen April, Jahre nach der schweren Wirtschaftskrise von 2008. Ob ihr Island noch wieder zu erkennen ist? Als die Finanzblase noch wuchs, brachte ein Isländer den Wahnsinn auf den Punkt: „Früher haben sich die Mädchen für deine Musik interessiert. Heute wollen sie wissen, ob man einen Privatjet hat.“ Tiefschürfende Erkenntnis nach der Krise: „Geld macht einen Affen aus Menschen.“ Die Autorin schließt das Buch mit der beruhigenden Feststellung: „Island ist immer noch ein Märchenland“
Den Fernseher ausschalten, am Lagerfeuer sitzen, Kindheitserinnerungen: „Erzählen ist die wichtigste Form menschlichen Denkens“ behauptet Werner Siefer, Diplom-Biologe und Autor des Bestsellers: „Ich, Wie wir uns selbst erfinden“ in seinem neuen Buch: „Der Erzählinstinkt – Warum das Gehirn in Geschichten denkt“.
Der Erzählinstinkt Warum das Gehirn in Geschichten denkt von Werner Siefer Carl Hanser Verlag, 2015 Gebunden, 250 Seiten ISBN 978-3446444737 13,4 x 2,7 x 21,2 cm
Intentionalität unterscheidet uns vom Affen – das Erkennen von Absicht, der Gebrauch von Gesten und Symbolen ist der Schlüssel menschlicher Kommunikation und entwickelt sich bereits bei Kleinkinden. Mit Hilfe von Studien der Entwicklungs-, Verhaltens- und Hirnforschung erläutert Werner Siefer in den ersten Kapiteln des Buches sehr anschaulich und gründlich, wie der Mensch zum Erzähler, zum „Homo Narrens“ wurde.
Sprache und Werkzeuge sind die Grundlagen für das soziale Miteinander und das Entstehen von Kultur schlechthin. Der Mensch braucht die Gruppe zum Überleben. Die Gruppe braucht den gemeinsamen kulturellen Hintergrund und der ensteht durch Geschichten, die für die Gesellschaft wie ein sozialer Kompass wirken. Die Hopi-Indianer sagen: „Der die Geschichte erzählt, regiert die Welt.“
Geschichten wirken nicht nicht nur beziehungsfördernd und agressionshemmend auf die Individuen einer Gruppe, sondern befriedigen das urmenschliche Bedürfnis nach „poetischer Gerechtigkeit“, die sich sehr schön in Hollywoods Happy Endings zeigt, genauso wie in der lustvollen Lektüre von Dramen und Romanen die unsere Sozialkompetenz schärfen und unser Empathievermögen steigern.
Im mittleren Teil des Buches geht es um die Strukturen und Wirkweisen von Erzählungen: Wie eine gute Dramaturgie unsere Aufmerksamkeit lenkt und das Chaos unserer Wahrnehmung ordnet. Ein wichtiges Mittel hierbei ist das Herausarbeiten des „Besonderen im Gewöhnlichen“. Geschichten bedürfen der Interpretation und können unterschiedliche Wahrheitsebenen enthalten: „Fiktion ist zweimal so wahr wie Realität.“
Das autobiografisches Denken bedarf der Worte. Nur worüber man spricht oder schreibt, bleibt im Gedächtnis haften. Erinnerungs- und Klärungsgespräche in der Familie und unter Freunden lassen einen das eigene Tun ins rechte Licht rücken. Life-Scripte leben von der narrativen Flexibilität. Hierbei gibt es kulturell bedingt unterschiedliche Formate und Konventionen.
Eine besondere Kategorie hierbei sind die „Meistererzählungen“, der Stoff aus dem die Träume sind: Erlösungsdramen und Heldenepen, von Jesus Christus bis John Wayne. Vor allem haben autobiografische Inhalte eine medizinische erwiesene Heilkraft: sich den Schmerz von der Seele schreiben, durch die richtigen Worte die eigene Handlungsmacht wiederentdecken. Erzählen bedeutet Bewegung, Entwicklung und Veränderung: „re-story yourself!“
Am Ende des Buches schlägt Werner Siefer noch einmal den ganz großen Bogen und regt unsere Visionen an, wenn er die derzeitigen Krisen unserer Welt als große Chance nimmt, die nationalen und internationalen Geschichten neu zu erzählen, und unerwarteten Wendungen zuzuführen. Dabei hegt er für Europa große Hoffnungen.
Dieses Buch habe ich gern gelesen, streckenweise verschlungen, an manchen Stellen auch einzelne Studien überblättert, jedoch immer wieder augenöffnende und überraschende „Goldkörner“ gefunden. Die Worte sind gut gewählt, die Sätze gut gebaut, die Schrift ist gut lesbar und das Papier fühlt sich gut an. Lesebändchen vermisse ich auch in gebundenen Exemplaren immer häufiger …
Jeder, der Bücher, Geschichten und Märchen liebt und sich näher mit dem Wieso und Warum des Storytelling auseinandersetzen möchte, sollte dieses Buch aufschlagen. Vor allem geeignet für alle, die selbst etwas zu berichten und zu erzählen haben, die ihr Leben in Geschichten bringen, die Autobiografisches verarbeiten wollen. Aber auch Drehbuchautoren, Gesellschaftswissenschaftler und visionäre Politiker finden hier anregende geistige Nahrung.