DREAMBOOK

Buchbesprechungen – keine Verrisse …

14. März 2022
von Joerg Kilian
Keine Kommentare

Stumme Erde

Fünf nach Zwölf?

Wer frühere Bücher des Autors gelesen hat, wird bald feststellen, dass „Stumme Erde“ keine erheiternde Lektüre ist, sondern ein heftiger Weckruf. Während „Und sie fliegt doch“, einen munter erzählten Einblick in die faszinierende Welt der Hummel gibt, dominieren in dem vorliegenden Werk die düsteren Töne. Auch wenn Sie kein besonderes Interesse an Insekten haben und diese sogar als lästig oder unnütz empfinden, sind genau diese Tiere aus Sicht des Autors der Schlüssel zum Verständnis komplexer Prozesse in unserer Umwelt.

Er spannt den Bogen aber noch weiter und zeigt wie unterschiedliche Lebensformen – von Bakterien und Viren bis hin zu Säugetieren, wie dem Menschen – so eng miteinander verflochten sind, dass das Überleben der Menschheit davon abhängig ist. Bekanntermaßen kann die Erde ja ohne uns Menschen klarkommen, wir jedoch ohne Erde …?

STUMME ERDE
Warum wir die Insekten retten müssen
Dave Goulson, deutsch von Sabine Hübner
Gebundene Ausgabe EUR 25,00
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2022
Zweite Edition, 14. März 2022
368 Seiten
15,3 x 3 x 21,8 cm
ISBN 978-3446272675

Seit seinem achten Lebensjahr hat sich der promovierte Biologe mit Professur an der Universität von Sussex in Südengland – intensiv mit Insekten beschäftigt. Der seit Jahrzehnten zu beobachtende Rückgang der Artenvielfalt – nicht nur bei Insekten – hat ihn bereits lange beschäftigt. Kaum ein Anderer, als „Hummel-Papst“ Dave Goulson, ist berufen, diese komplexe Thematik für uns zu beleuchten und zu deuten.

Der Titel des Buches bezieht sich auf das bereits 1963 erschienene Buch „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson, in dem die amerikanische Autorin unseren Umgang mit der Umwelt anprangert. Wir befinden uns im Anthropozän (ja, auch ich hasse dieses Wort), dem Zeitalter, das vor zehntausend Jahren begann und durch das nachweisbare Wirken der Menschen auf unseren Planeten definiert wird.

Die fortschreitende Expansion der Zivilisation mit ihren materiellen Bedürfnissen bringt die bisherigen natürlichen Lebensvorgänge auf der Erde zunehmend aus dem Gleichgewicht.
Nach einem Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Insekten, zeichnen die ersten Kapitel des Buches ein alarmierendes Bild des sich immer weiter beschleunigenden Artensterbens. Die qualitative und quantitative Abnahme der Biodiversität wird vom Autor detailliert erklärt, unterstützt von grafischen Darstellungen und den Ergebnissen fundamentaler Studien der vergangenen Jahrzehnte. Soweit möglich, zieht er daraus Schlüsse und klärt Ursachen und Zusammenhänge.

Im mittleren Teil des Buches wird die kämpferische Haltung des Autors sichtbar, indem er uns mitnimmt in die Vielzahl von juristischen und politischen Prozessen, an denen er als Advokat der Natur teilgenommen hat. Hier geht es um intensive Landwirtschaft, namentlich Pestizid, Düngemittel. Aber auch um die Abnahme der Biosphären, den Klimawandel und andere technologische und lebensfeindliche Entwicklungen, die wir zunehmend wahrnehmen.

Am Ende jeden Kapitels, gibt es dann doch ein etwas erheiterndes „Bonbon“. In dem aus seinen bisherigen Büchern gewohnten anekdotischen Stil, werden einzelne Insektenspezies mit besonders faszinierenden Eigenschaften vorgestellt.

Nach einer ziemlich dystopischen – jedoch sehr realistischen Vision – die der Autor aus der Ich- Perspektive eines Millennium-Geborenen erzählt, kann dann der letzte Teil des Buches mit einem Katalog von Maßnahmen aufwarten, wie jede Einzelne von uns in allen Bereichen unseres Lebens etwas dazu beitragen kann, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommt, wie in den düstersten Prognosen.

Zurückdrehen lässt sich die Entwicklung zwar nicht, jedoch wäre es möglich, dass die Uhr doch erst fünf vor Zwölf zeigt und wir heilsame Prozesse ingangsetzen können. Entscheidend dafür ist jedoch das Bewusstsein dafür in die Öffentlichkeit zu tragen, dass jetzt gehandelt werden muss.

Essayistisch und immer stilsicher, jedoch auf wissenschaftliche Korrektheit bedacht, gibt uns Dave Goulson einen Überblick davon, wie schlimm es um unsere Umwelt bestellt ist und auch warum wir mit diesen deprimierenden Fakten noch gar nicht umgehen können – oder wollen. Während seiner Vortragsreisen hat der Autor einen guten Eindruck davon bekommen, wie schwer es uns fällt, Komplexität in der Natur und deren Auswirkungen auf das eigene Leben zu verstehen.

Meine Rezension bezieht sich nicht auf das gebundene Buch, sondern das eBook. Die digitale Ausgabe ist gut lesbar und funktionell formatiert. Hier und da gibt es kleinere Schnitzer in der Textformatierung. Die Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Hübner – die bereits frühere Werke von Dave übersetzt hat – scheint inhaltlich und formal richtig zu sein. Die englische Originalausgabe liegt mir nicht vor.

„Stumme Erde“ ist vielleicht nicht das beste Buch, das ich je gelesen habe, wohl aber eines der wichtigsten. Die Lektüre ist nur der Anfang; die Umsetzung der gewonnenen Einblicke und Anregungen wartet auf uns alle. Weitersagen!

15. März 2021
von Joerg Kilian
Keine Kommentare

Identitti

Wo kommst du her her her?

Diese Frage kann einem dort gestellt werden, wo man üblicherweise nicht zuhause ist. In der Fremde, von Fremden. Es ist nur eine von vielen Fragen nach Identität: Was machst du? Was bist du von Beruf? Wie bist du politisch orientiert? Welches Sternzeichen hast du? Welcher Religion gehörst du an? Bist du weiblich oder männlich oder dazwischen? Aber vor allem: Wo kommst du wirklich her? Die Fragen nach Herkunft, Rasse und Zugehörigkeit.

Diese Fragen werden in dem fulminanten Roman IDENTITTI von Mithu Melanie Sanyal in einer atemberaubenden und mitunter grotesken Geschichte aus allen Sichtwinkeln gestellt, beleuchtet und teilweise auch beantwortet. Die Autorin bewegt sich wortgewandt, oft ironisch humorvoll und mit intuitiver Treffsicherheit in den Debatten rund um Rassismus, Kolonialismus, Identitätspolitik und weiße Vorherrschaft.

„Das Post in Postkolonialismus bezieht sich auf die Konsequenzen aus dem Kolonialismus, nicht auf das Ende des Kolonialismus“

IDENTITTI
Mithu M. Sanyal
Roman
Gebundene Ausgabe EUR 22,00
ePub EUR 16,99
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2021
Zweite Edition, 15. Februar 2021
432 Seiten
13,8 x 3,4 x 20,8 cm
ISBN 978-3-446-26921-7

Ab 26.07.2022 auch auf Englisch

Ich werde nicht auf die Handlung eingehen; das haben viele Andere vor mir schon besser dargestellt (siehe Rezensionslinks unten). Eher versuche ich, zu beschreiben, wie die Lektüre auf mich gewirkt hat und wie sie mich weiter beschäftigt. Schon bei der Vorstellung im Deutschlandfunk war ich wie elektrisiert, habe mir das Buch sofort besorgt und als ePub gelesen; auch das Lesen am Bildschirm für mich eine neue Erfahrung.

Mit 60+ gehöre ich sicherlich nicht zur Hauptleserschaft und hatte bei der Lektüre der Geschichte die in einem internationalen studentischen Mikrokosmos spielt, ein gewisses voyeuristisches Gefühl. Aber da ich biologischer Vater von zwei heranwachsenden Söhne bin, deren Mutter aus Asien kommt, hatte ich gedacht, mich mit mixed-races ein wenig auszukennen. Die Lektüre des Buches allerdings hat mich geradezu überwältigt …

„Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächerte sich die Wirklichkeit in so viele Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für sie gab.“

Dieses ist nur eines von gefühlt Hunderten von Zitaten, von denen ich viele gelb markiert oder auch kopiert habe, weil sie so viele Aspekte von Wahrheiten beinhalten. Das Buch ist für mich Roman und essayistisches Sachbuch in Einem, „genreübergriffig“ im besten Sinne. Zwar gibt es keine Fußnoten, im Anhang jedoch detaillierte Quellennachweise für Zitate und weiterführende Literatur.

Unkonventionell und mit verblüffender Leichtigkeit jongliert die Autorin mit Sprache: Gedankenströme ohne Punkt und Komma, gewürzt mitcodierten Begriffen, Neologismen, durchgekoppelten Wortwürmern und Neuschöpfungen sprudeln nur so aus der Erzählerin heraus. Selbst in den depressivsten Stimmungen der Protagonistin leuchtet zwischen den Zeilen ein heiter optimitischer Hoffnungsschimmer. Man ahnt, dass am Ende alles gut wird.

„Vanessa sprach »Oma« »Omma« aus und »Mutter« »Mmuhtter«, deshalb hatte sich Nivedita ihr auf der Party — trotz Altbauwohnung mit ballsaalähnlichem Ausmaß und viel mehr Käsesorten auf dem Beistelltisch, als Nivedita benennen konnte — in einem Wir-Töchter-Essens-gegen-den-Rest-der-Welt-Reflex verbunden gefühlt, bis Vanessa ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Simon und dessen Erfahrungen mit der Dreifaltigkeit konzentrierte.“

Nach einem Drittel der Lektüre wurde ich der vielen Dialoge und Diskussionen etwas müde, die sich in den komplizierten Beziehungen zwischen den Protagonistinnen ergaben. Stimmt: Männer kommen in dem Buch nur gelegentlich zu Wort! Soviel empfindsame Gefühligkeit war ich einfach nicht gewohnt. Den Widerstand zu überwinden hat sich jedoch gelohnt, denn die Lektüre ist immer gehaltvoll, unterhaltsam mit manch gutem plot twist.

„Sie schafft, dass es leicht wirkt, über Rassismus zu lachen — und dass alle natürlich mitlachen, weil Rassismus so absurd ist.“

Erst mein Sohn machte mich darauf aufmerksam, dass es biologisch gesehen gar keine menschlichen Rassen gibt, sondern dass Rassen nur ein soziales Konstrukt sind, ein Herrschaftsinstrument. Den meisten von uns ist nicht klar, welche gesellschaflichen Mechanismen bestimmte Gruppen ausgrenzen, trotz oft auch wegen der üblichen politischen Korrektheit.

Dieses Buch ist ein unglaublich positiver Augenöffner. Damit es noch mehr Menschen erreicht, würde ich mir den Stoff auf der Bühne inszeniert wünschen oder auch als verfilmte Miniserie. Der leise und versöhnliche Schlussakkord macht uns glauben, dass das urmenschliche Interesse aneinander, Anteilnahme und Empathie am Ende den Sieg erringen.

„Die Dinge und ebenso wir Menschen können das eine sein, ohne dadurch die Fähigkeit zu verlieren, auch etwas anderes zu sein.“

Die Autorin war mir eine riesige Hilfe die unterschiedlichen Aspekte von Identität zu verstehen und einzuordnen. Ich fühle mich reich beschenkt. Dank dieses Romans ist die Welt noch liebenswerter und transparenter geworden und obwohl ich mich schon immer ein wenig trans-race gefühlt habe, weiß ich endlich wie man das nennt!

„It’s not the meek that will inherit the earth, it’s the mixed that will inherit the earth.“

WEITERE REZENSIONEN

Buch-Haltung – Subjektive Buchkritik seit 2013

letteratura – Ein Literaturblog

Seitenhinweis – Ein Buch-Blog

11. Oktober 2017
von Joerg Kilian
Keine Kommentare

Die drei Sonnen

Wie man in den Wald hineinruft …

Eigentlich bin ich kein SF-Leser; dieses Buch hat mich jedoch vom ersten Moment an in seinen Bann geschlagen. Gerade von einem längeren China-Aufenthalt zurück, erfuhr ich von einem Bekannten am Telefon, dass er sich, einer Empfehlung der Süddeutschen Zeitung folgend, das Buch „Die drei Sonnen“ geholt und in einem Zug durchgelesen hätte. Und, obwohl auch er normalerweise kein Science Fiction liest, so fasziniert davon war, dass er sich gleich den zweiten Band der Trilogie auf englisch geholt hat, da die deutsche Fassung erst im Juni 2018 erscheinen soll. Noch bevor ich den Titel selbst in Händen hielt, erzählte mir ein guter Freund am nächsten Morgen beim Frühstück, dass er gerade einen tollen SF-Roman liest: „Die drei Sonnen“!

Die drei Sonnen: Roman
von Cixin Liu
aus dem Chinesischen von Martina Hasse
broschiert, 592 Seiten
Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (12. Dezember 2016)
ISBN-10: 3453317165
ISBN-13: 978-3453317161
Originaltitel: The Three Body Problem Trilogy Book 1 – Sanbuqu Santi
13,4 x 5 x 20,5 cm
EUR 14,99

Am Tag darauf Familientreffen. Ich frage meinen Bruder, der bei uns in der Familie der SF- und Phantasie-Spezialist ist… Er hatte das Buch selbstverständlich bereits gelesen. Ich konnte kaum noch erwarten, mit der Lektüre zu beginnen. Ein befreundeter chinesischer Physiker, dem ich gleich begeistert von dem Buch erzählte, hatte auch noch nie von Cixin Liu gehört, wusste aber nach kurzer Internetrecherche zu berichten, dass Präsident Obama das Buch als Urlaubslektüre gelesen und auch Marc Zuckerberg es in höchsten Tönen lobte. Auch Denis Scheck hat das Buch bereits besprochen und es als besten SF-Titel der letzten 30 Jahre bezeichnet.

Warum erzähl ich das Ganze? Weil bei mir, wie auch bei Ihnen vielleicht, die Sychronizitäten um eine Geschichte herum, eine bedeutende Rolle spielen. Ich lese eigentlich nur Bücher, die mich förmlich anspringen. Kollegen von mir haben in Länge und Breite die Hardfacts zu diesem Buch abgehandelt; ich möchte mich auf eher persönliche Eindrücke beschränken. Nicht ganz klar ist mir, warum diese Geschichte, die bereits 2006 in einem chinesischen SF-Magazin erschien, erst zehn Jahre später auf englisch und jetzt auf deutsch erscheint. Da wird in den kommenden Jahren wohl noch der eine oder andere literarische Schatz aus Fernost bei uns im Westen auftauchen … siehe Literaturnobelpreis.

Die einzigen SF-Romane, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe, sind „Limit“ von Frank Schätzing und „Amalthea“ von Neil Stephenson. Ähnlich wie „Die drei Sonnen“ sind diese Bücher sehr umfangreich, technogen und drehen sich um die zukünftige Existenz der Menschheit außerhalb unseres Heimatplaneten. Das vorliegende Buch geht in seinen Spekulationen allerdings viel weiter und bezieht die Gesamtheit unseres Handelns auf allen Ebenen ein. Nicht nur erstaunlich die gesellschaftspolitische Rückschau, sondern auch die konsequente Auseinandersetzung mit Astro- und Teilchenphysik in den Grenzbereichen zur Philosophie. Der Autor faltet für uns spielerisch das ganze Universum auch jenseits der Raum-Zeit auseinander. Man hat das Gefühl, durch das ganze Weltall zu blicken und nichts ist, wie wir es zu kennen meinen. Die zwölf Dimensionen von Burkhard Heim scheinen sichtbar zu werden.

Es geht in dem Buch um Spionage, Cyberkrieg, Computerspiele, VR und AR sowie Computer im – aber auch – aus(!) Menschen. Wir bekommen tiefe Einblicke in die chinesische Kultur und die jüngste chinesische Vergangenheit, die ein Großteil der Bevölkerung barfuß und hungernd erlebte. Humanistische Ideale und Umweltbewusstsein hinterfragen den Stellenwert von Wachstum und Wissenschaft – und damit die menschlichen Existenz: Pfeifen im Walde? Es geht ums Ganze, um einen extraterrestrischen Verrat an der Menschheit: Rettung oder Vernichtung? Dabei schafft es Cixin Liu mehrere zeitlich und räumlich scheinbar unabhängige Erzählstränge so zu verweben, dass fast magische Sphären entstehen, in denen alles möglich scheint.

Hier eine typische Passage: „Er erinnerte sich an ein Informatik-Seminar, dass er in seinem dritten Studienjahr besucht hatte. Der Professor hatte zwei große Bilder an die Wand gehängt. Das eine war die Qingming-Rolle, ein berühmtes und äußerst detailreiches Bild auf einer Querrolle aus der Song-Dynastie. Das andere ein Foto, das den nur blauen Himmel mit einem kleinen, kaum wahrnehmbaren Wolkenstreifen zeigte. Der Professor fragte sie, welches der beiden Bilder mehr Informationen enthalte. Es stellte sich heraus, dass der Informationsgehalt des Fotos den der Querrolle um ein bis zwei Größenordnungen übertraf. Sie zeigte reine Entropie.
Mit dem Spiel „Three Body“ verhielt es sich genauso. Ein Großteil seiner Informationen war an der Oberfläche nicht erkennbar. Wang Miao konnte es fühlen, aber nicht klar ausdrücken. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Macher von „Three Body“ genau den umgekehrten Weg gegangen waren wie die Entwickler von anderen Spielen. Im allgemeinen ist ein Spieleentwickler darauf bedacht, die Menge an sichtbaren Informationen zu maximieren, damit sein Game möglichst realistisch wirkt. Die Entwickler von „Three Body“ dagegen hatten die sichtbaren Informationen an der Oberfläche nach Kräften reduziert, um die zu Grunde liegende komplexe Realität des Spiels zu verschleiern. So wie auf dieser Fotografie eines scheinbar leeren Himmels.“

Sprachlich ist der Roman eher einfach gehalten; kurze Sätze denen oft eine seltsame Poesie innewohnt. „Er ging zwischen den Kindern hindurch zu der Tür, auf die Ye Wenjie gedeutet hatte. Bevor er eintrat, blieb er stehen. Ein seltsames Gefühl hatte ihn ergriffen. Als befände er sich in einem Traum aus deiner Jugendzeit. Aus den Tiefen seiner Erinnerung tauchte eine prickelnde Empfindung auf – traurig, glitzernd wie Tauperlen am frühen Morgen, und zart rosa.“

Der Roman wird ergänzt durch einen Anhang mit Anmerkungen zu bestimmten Begrifflichkeiten und ein Nachwort des Autors, in dem er sehr authentisch schildert, wie das Buch entstanden ist und welche persönlichen Lebenserfahrungen eingeflossen sind. Ein besonderes Kompliment an Martina Hasse, der mit ihrem Übersetzungs-Marathon die Übertragung einer unglaublich schwierigen und komplexen Materie zu einer farbigen und schlüssigen Geschichte gelungen ist. Gerade wenn man bedenkt, dass es nicht nur darum geht, die Besonderheiten der chinesischen Kultur, sondern auch astro- und quantenphysikalische und philosophische Darstellungen verständlich ‘rüberzubringen. Chapeau!

Die Schrift ist sehr gut lesbar, die Bindung für ein Taschenbuch ganz exzellent. Fast 600 Seiten für schlappe EUR 14,99. Für dieses Buch hätte ich glatt das Dreifache gezahlt und freue mich schon auf die Fortsetzung der Trilogie: „Der Dunkle Wald“. Im Englischen ist der Titel unter dem Namen „The Dark Forrest“ bereits erschienen.

WEITERE REZENSIONEN

DRUCKFRISCH – Dennis Scheck

4. Oktober 2017
von Joerg Kilian
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Der verratene Himmel

Hand aufs Herz

Mal ehrlich: Hätte dieses Buch nicht fast ein Drittel schlanker sein können? Ich hätte nichts vermisst. Die größte Schwäche ist der verbale Ballast des Textes. Er ergeht sich in inhaltlichen Wiederholungen und unnötigen Ausschmückungen. Der Spagat zwischen populärwissenschaftlichen Darstellungen und Auszügen aus verschwörungstheoretischen Dokumenten ist nicht gelungen.

Der Autor schreibt an mehreren Textstellen, fast entschuldigend, dass er das Buch einem inneren Ruf folgend, spontan geschrieben hat und sich sein eigener Verstand mehrfach dagegen wehrte. Solche Autoabsolutionen gehören in den Prolog oder Epilog eines Buches aber nicht in den laufenden Text.

Der verratene Himmel:
Rückkehr nach Eden
von Dieter Broers
gebundene Ausgabe, 112 Seiten
Dieter Broers Verlag Ltd., 2014 (04.10.2014)
ISBN-10: 3950381406
ISBN-13: 978-3950381405
22,4 x 14,8 x 2,6 cm
EUR 19,99

Meine Erwartungen hat das Buch nicht erfüllt. Der Autor macht es nicht nur sich selbst schwer, sondern auch dem Leser, den umfangreichen und ohnehin sperrigen Stoff bis zum Ende aufzunehmen. Das letzte Drittel des Buches ist eigentlich nur für hartgesottene Esoteriker verdaulich. Der Rest des Buches ergibt allerdings ganzheitlich einen Sinn.

Dabei geht es so gut los! Titel und Cover sind so liebevoll gestaltet und vielversprechend. Die serifenlose Schrift ist auch bei wenig Licht noch gut lesbar, das Papier ist griffig und der Buchblock mit Lesebändchen ausgestattet. Die ersten Kapitel sind der Erkundung der physiologischen und psychologischen Grundlagen des Menschseins gewidmet.

Hier finde ich Vieles wieder, was mir auch an anderen Quellen zugeflossen ist: Von der Weltschau eines Krishnamurti bis zu den multidimensionalen Universen Burkhard Heims, eines verkannten deutschen Pysikers, den ich sehr verehre. Folgen kann ich auch der offensichtlichen Entwicklung unserer Gesellschaften von einem Gemeinsinn hin zur alleinigen Geltung des Egos, der damit verbundene ethische Verfall und der Verlust des göttlichen Selbst.

Auch ich sehe das System, ein Muster, eine Matrix der zunehmenden Fremdsteuerung der Menschen. Nur indirekt angesprochen wird in dem Buch die Rolle, die den Medien und den kapitalitischen Wirtschaftskräften dabei zukommt. Denn – und hier fängt mein Verstand an sich auszuklinken – der Autor beginnt nun mit Beweisführungen, als Quellen uralte gnostische Texte aus Ägypten heranzuziehen, in denen von mutmaßlich außerirdischen nichtkörperlichen Wesensheiten die Rede ist, die seit Jahrtausenden versuchen, uns ein „X für ein U“ vorzumachen, in dem sie uns die Welt durch eine Art Zerrbrille betrachten lassen, die alles in sein offensichtliches Gegenteil verkehrt.

Selbst wenn dies alles inhaltlich richtig sein sollte, gelingt es dem Text – trotz der einpeitschenden Wiederholungen – nicht überzeugend genug zu sein, um den verquasten Schlüssen zu folgen. Gegen Ende des Buches fällt für mich vieles, was am Anfang noch verstanden wurde, auseinander.

Der Leser wird allein gelassen mit dem Fazit, dass nur die Entdeckung des eigenen göttlichen Selbst eine Rettung vor der Matrix sein wird: Das Rendevouz mit uns selbst, die Entdeckung der wahren Liebe. Die einzigen konkreten Ratschläge für eine „Rückkehr nach Eden“ bestehen in Tipps zu Meditationen und der Einnahme psychoaktiver Substanzen, die einen erkennen lassen, wie die Welt wirklich ist und wohin unser Weg führt.

13. September 2017
von Joerg Kilian
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Evolution ohne uns

Menschen vergessen, Festplatten nicht
Menschen fühlen, Maschinen nicht!

Das Buch ist Ergebnis einer mehr als zweijährigen Investigativrecherche zum Thema Künstliche Intelligenz. Ausschnitte daraus erschienen bereits vorab in Cicero, im Playboy und in der Welt am Sonntag. Eher zufällig kam es in den Stapel meiner Rezensionen, nachdem meine Frau es bei einer Buchvorstellung vom Autor geschenkt bekam und mir berichtete, dass es bald auf Chinesisch erscheinen wird: Also global relevanter Lesestoff, der mich sofort anzog. Außerdem liegt es wischen zwei anderen Bücher mit ähnlichem thematischem Querschnitt die ich gerade lese: Ein Science Fiction-Roman und eine eher esoterische Abhandlung. In allen geht es um nicht weniger als das Überleben der Menschheit.

Evolution ohne uns
Wird künstliche Intelligenz uns töten?
von Jay Tuck
gebundene Ausgabe, 336 Seiten
Plassen Verlag, Auflage: 1 (10. August 2016)
ISBN-10: 3864704014
ISBN-13: 978-3864704017
14,4 x 3,5 x 22,1 cm
EUR 19,99

Der Autor Jay Tuck ist US-Sicherheitsexperte, Journalist, Fernsehproduzent, Buchautor, Werbesprecher und Vortragsredner. In seinen 35 Jahren beim deutschen Fernsehen war Tuck investigativer Reporter für den NDR und WDR, Kriegsberichterstatter der Tagesschau und leitender Redakteur derTagesthemen. Heute produziert er weiterhin Sendungen und Technologiemagazine für das deutsche Fernsehen, den National Geographic Channel und Al Jazeera. Als anerkannter US-Kriegsdienstverweigerer zog er 1969 nach Deutschland, wo er während des Vietnamkrieges zwei Jahre lang einen zivilen Ersatzdienst in der Jugendarbeit in Hamburg ableistete. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen drei Kindern ebenda.

Spannend ist der Stoff von der ersten bis zur letzten Seite. Anhand von Meldungen und Berichten aus den vergangenen zwei Jahrzehnten und deren detaillierter Darstellung werden einem Schritt für Schritt die Augen geöffnet für ein großes Bild, das sich immer deutlicher abzeichnet: Der Gefahr, dass unsere Spezies von einer selbst geschaffenen allumfassenden global-vernetzten künstlichen Intelligenz bedroht wird. Die hochaktuellen Beispiele reichen von Abhöraktionen, Big Data, Cyberwar, Data Fusion, Drohnen- und Mikrowaffen, Handyüberwachung bis hin zu Smart Home und Smart City; dem bald in allen unseren Lebensbereichen agierendem Internet der Dinge.

Eine künstliche Intelligenz, uns um ein Vielfaches überlegen, ist nicht mit ethischen Grundsätzen ausgestattet. Sie wurde für andere Zwecke geschaffen. Ihr Ziele lauten: Effizienz, Geschwindigkeit, Wachstum, Exzellenz – ganz ohne moralische Bedenken. Diese Tatsache kann schnell zu einer unkontrollierbaren Katastrophe führen, die die gesamte Menscheit auslöscht. Viele kluge und wichtige Köpfe wie Stephen Hawking und Elon Musk warnen seit Jahren davor.

Der Autor lässt uns gegen Ende des Buches allerdings nicht allein mit dem Bild der Bedrohung; er nennt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die wir ergreifen können. Nicht nur als Einzelne, sondern als Gemeinschaft. Auf nationaler Ebene, in der EU, in den Vereinten Nationen, in Wissenschaftsgremien und vor allem im Verbund des Internet. Aber Vorsicht; die künstliche Intelligenz lauert überall!

Dass hier ein versierter Journalist am Werk war, wird schon nach den ersten Sätzen deutlich. Der Autor schafft es mit einfachen Worten, in relativ kurzen Sätzen und spannender Erzählstruktur das doch sehr komplexe Thema allgemeinverständlich rüberzubringen. An einigen Stellen wirken jedoch Alliterationen und mantrenhaftes Frage- und Antwortspiel ein wenig manieristisch. Häufige Wiederholungen von Inhalten geben den Eindruck, dass hier etwas eingetrichtert oder eingehämmert werden soll. Auch ohne inhaltliche und stilitische Einbußen hätte der Stoff auf 280 Seiten reduziert werden können.

Die gewählte Schrift ist sehr gut lesbar, der Einband funktionell, allerdings ohne Lesebändchen. Die Kapitel sind mit Unterkapiteln gut strukturiert. Inhaltlich fehlt es an Nichts zu diesem umfassenden Themenkomplex. Eine gute Ergänzung sind die Änhänge: Beispiele von Dialogen mit Künstlicher Intelligenz, Liste von Facebooks Gender-Bezeichnungen, Beispiele von Überwachungs-Tools, Tarnkleidung gegen Drohnenortung, die Google-Verfassung, einen offenen Brief globaler KI-Gegner sowie mehrere farbige Fotos.

Ich halte das Buch für das derzeit wichtigste deutschsprachige populär-wissenschaftliche Werk zum Thema Künstliche Intelligenz und kann es wärmstens empfehlen. Trotzdem rate ich es nur dann zu lesen, wenn man „gut drauf ist“. Bei mir hat es bisweilen depressive Stimmungen ausgelöst.

6. September 2017
von Joerg Kilian
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Lost in Translation

Kunterbuntes Multikulti-Wörterbilderbuch

Ein guter Titel, der an einen bekannten Film anknüpft, ist schon mal eine gute Voraussetzung für den Erfolg eines Produktes. Hier handelt es sich eindeutig nicht um ein literarisches Werk, sondern um den Versuch einer interessanten Sammlung von Wörtern verschiedener Sprachen, die so eigenwillig einer bestimmten Kultur zugeordnet sind, dass sie sich in anderen Sprachen nur umschreiben oder erklären lassen.

Lost in Translation
Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt
Ella Frances Sanders
aus dem Englischen von Marion Herbert
gebundene Ausgabe, 112 Seiten
DuMont, 2017
ISBN-10: 3832198490
ISBN-13: 978-3832198497
Originaltitel: Lost In Translation. An Illustrated Compedium of Untranslatable Words from Around the World
17 x 1,5 x 19,2 cm
EUR 18,-

Da das Buch die deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originals von Ella Frances Sanders ist, können wichtige Konnotationen bereits bei der „Translation“ ins Deutsche verloren gegangen sein. Dies kann ich nicht beurteilen, da mir das Buch nicht vorliegt. Beurteilen kann ich allerdings die Erklärung zu den Begriffen von Sprachen, derer ich mächtig bin; beispielsweise Norwegisch.

Das norwegische Wort „forelsket“ bedeutet übrigens nichts anderes als das deutsche Wort „verliebt“. Hier zeigt sich die Schwäche der Übertragung eines Buches von einem Sprachraum (Englisch) in einen anderen (Deutsch). Im englischsprachigen Original ergibt die Erklärung des norwegischen Wortes einen Sinn, da es im Englischen keine griffige Entsprechung (being in love) für das Adjektiv „verliebt“ gibt.

Englische Sprachen wie US-Amerikanisch, Irisch, Schottisch, australisches- und kanadisches Englisch sind komplett unterschlagen, was wahrscheinlich dem englischsprachigen Original zu schulden ist; obwohl es in diese Sprachräume auch unglaublich interessante lokale und regionale Wortschöpfungen zu bieten haben.

Ich hätte mir auch ansonsten eine größere Sprachenvielfalt gewünscht. Einige Sprachen wie Ungarisch, Kroatisch, Litauisch, Estnisch, Philippinisch, Thai und Chinesisch tauchen gar nicht auf, andere wie Norwegisch, Schwedisch, Arabisch, und Japanisch immer wieder. Am Ende des Büchleins gibt es eine eigene Abteilung von deutschen Wörtern wie „Kabelsalat“. Das deutsche Wort „Waldeinsamkeit“ wird zwar Heinrich Heine zugeschrieben, hat seine Wurzeln jedoch in spirituellen Mönchspraktiken des Buddhismus und Hinduismus. Hätte mir doch mal jemand die Einzigartigkeit des urdeutschen Begriffs „Heimat“ erklärt!

Das Layout und Design, sowie die durchaus gelungenen Illustrationen in dem Büchlein sind die halbe Miete. Allerdings ist die handschriftliche Typografie an manchen Stellen eine Zumutung. Das Lesen des Vorworts in kleiner dünner weißer Schrift auf hellblauem Fond bedarf einiger Überwindung (siehe Foto). Aber wer liest schon ein Vorwort; außer den Rezensenten!

Durchgeblättert hat man die 112 Seiten in wenigen kurzweiligen Momenten. Geeignet ist das gebundene Buch in seinem handlichen Format als Verlegenheits-Mitbringsel. Allerdings nur, wenn man nicht so genau auf’s Geld achten muss: Mit EUR 18 ist es eindeutig überteuert.

Richtig geärgert hat mich, dass an zwei Stellen des Buches der Buchblock beim Beschneiden nicht richtig ausgerichtet war, so dass jeweils zwei Seiten mit einer Art Eselsohr zusammenhängen (siehe Fotos). Ich werde das jetzt nicht mit der Schere auseinander schneiden, sondern zum Buchhandel gehen und mir ein anderes Exemplar geben lassen …

24. Mai 2017
von Joerg Kilian
Keine Kommentare

Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten

Es geht immer noch was!

Gerade eben habe ich das Buch zugeschlagen. Ich habe an vielen Stellen herzlich lachen müssen und am Ende flossen die Tränen. Das können Sie mir glauben! Man muss sich überhaupt gar nicht für Fußball interessieren, um von den Geschehnissen rund um diese Dorfgemeinschaft im tiefsten Mittelengland der 1970er Jahre in den Bann gezogen zu werden. Nun gut, es schadet wiederum nicht ein Fußball-Fan oder -Spieler zu sein, denn hier wird ein Sport geschildert, so wie er heute wohl kaum noch zu finden ist.
Denn die Mannschaft, die sich hier im Laufe der Geschichte formiert, ist alles andere als professionell im heutige Sinne. Es ist zwar ein abgehalfterter ehemaliger Profi darunter, jedoch macht den Unterschied aus, dass die Protagonisten es nicht für das liebe Geld tun, sondern für die Ehre ihres Dorfes. Und dafür werden alle, aber wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt … bis zum erhofften großen Erfolg.

Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten
J.L. Carr
aus dem Englischen von Monika Köpfer
gebundene Ausgabe, 192 Seiten
DuMont, 2017
ISBN-10: 3832198547
ISBN-13: 978-3832198541
Originaltitel: How Steeple Sinderby Wanderers won the FA Cup
12,5 x 2,2 x 20,5 cm
EUR 20,-

Da Montag gerade der Terroranschlag in Manchester verübt wurde, bei dem viele Konzertbesucher, vor allem Kinder und Jugendliche ums Leben kamen, zitiere ich einen Taxifahrer, der wie viele andere, nach der Explosion kostenfrei Überlebende in Sicherheit brachte: „Wir sind wie Leim. Wir halten zusammen wenn es zählt.“ Genau dieser Geist wird auch in dem Buch J.L. Carrs an vielen Stellen deutlich. Wer sich dieser, teils amüsanten, teils schwermütig-melancholischen und dann wieder schenkelklopfend-urkomischen Erzählung entziehen kann, ist selbst Schuld ein kleines Stück Weltliteratur zu verpassen.

Ich könnte jetzt eine kurze Inhaltsangabe schreiben und viele typische Textstellen aus dem Buch zitieren, um diese Rezension anzureichern. Doch das lesen Sie vielleicht besser bei anderern Rezensenten, die das ausführlicher machen. Mit auf den Weg geben möchte ich Ihnen nur die Regel Nr. 1, die der Vordenker und strategische Lenker dieses ungewöhnlichen Erfolgs, der gebürtige Ungar und Doktor der Philosophie Dr. Kossuth seinen „Recken“ mit auf den Weg gibt: „Man kann den Ball ohne Weiteres spielen, ohne auf seine Füße zu schauen. Frauen müssen beim Stricken auch nicht auf ihre Hände gucken.“

Mir hat dieses Buch fast besser gefallen als „Ein Monat auf dem Land“ vom gleichen Autor, das ich im vergangenen Herbst das Vergnügen hatte zu lesen. Fast unnötig zu sagen, dass auch in dem vorliegenden Büchlein von 190 Seiten die Sprache zwar verständlich einfach und doch vielseitigst wortgewaltig und filigran ist. Der Übersetzerin Monika Köpfer ist es gelungen, das englische Original so treffsicher zu übersetzen, dass von der typisch britischen Atmosphäre, dem scharfen Wortwitz aber auch der Wehmut gar nichts verloren geht.

3. Mai 2017
von Joerg Kilian
Keine Kommentare

Birthday Girl

Wünsch dir was!

Die mysteriösen Geschichte einer Kellnerin, die ausgerechnet an ihrem Geburtstag, ganz unerwartet einen Kollegen vertreten muss und dabei Gelegenheit bekommt, den uralten und sonst unsichtbaren Besitzer des Hotels und italienischen Restaurants kennen zu lernen und von ihm mit bsonderer Aufmerksamkeit bedacht zu werden, nämlich einen wie auch immer gearteten Wunsch zu äußern, den der alte Mann ihr erfüllen wird.

Birthday Girl
Haruki Murakami
Illustrationen von Kat Menschik
aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
gebundene Ausgabe, 80 Seiten
DuMont, 2016
ISBN-10: 383219858X
ISBN-13: 978-3832198589
Originaltitel: Basudei-garu
14,3 x 1,2 x 21,3 cm
EUR 16,-

Ein Büchlein über das Wünschen. Eine Parabel, die um die Tatsache kreist, dass auch wenn einem alle Wünsche erfüllt werden, man nie mehr werden kann als man ist. Die vielen Illustrationen sind jeweils ganzseitig dem Text gegenübergestellt. Angelegt in dem typischen Stil der Illustratorin, der an die Siebdrucke der Pop-Kultur der 70er Jahre erinnert; einfarbige Flächen und Linien werden collageartige ineinander verschränkt.
Am besten hat mir die Illustration auf Seite 32 gefallen (siehe Foto).

Von allen Büchern, die Murakami von Kat Menschik illustrieren ließ, meiner Meinung nach das Beste. Mag es an der Geschichte selbst liegen, an den zauberhaften Illustrationen in rot, rosa und orange. Besonders gefallen hat mir auch der Epilog, in dem Murakami über seinen eigene Geburtstag sinniert sowie über seine Bewunderung für und Verbundenheit mit dem amerikanischen Schriftsteller Jack London, der am gleichen Tag wie Murakami Geburtstag hatte.

Ein bibliophiles Kleinod und nettes Mitbringsel für Menschen, die nicht viel Text brauchen um glücklich zu werden. Wie auch die anderen Bilderbücher Murakamis jedoch keine Lektüre um das Werk des Autors kennen zu lernen. Seine Romane sind nochmal wieder eine ganz andere Geschichte.

25. Februar 2017
von Joerg Kilian
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Wenn der Nagekäfer zweimal klopft

Ein Summen in der Wiese … zum Nachdenken anregend

Insekten besitzen drei Paar Beine.
Richtige Blutgefäße haben sie keine,
uns während die Knochen sonst innen liegen,
liegt ihr Skelett außen, sie schwimmen und fliegen,
ihr dreiteil’ger Leib ist behaart oder kahl,
ihr Herz liegt hinten, für sie so normal,
wie dass sie Millionen von Eiern legen,
und atmen indem sie sich rhythmisch bewegen.
Die Fühler werden fürs Riechen gebraucht,
die Füße zum Schmecken ins Essen getaucht –
und wirklich erstaunlich, was ihnen so schmeckt:
Eine Blume oder ein anderes Insekt,
mal werden Mäntel und Holz benagt,
ein Teppich zerkaut oder Menschen geplagt …
Sie fressen, wobei sie selbst uns nicht verschonen,
und zählen ganz sicher hundert Trillionen!
Alles wird täglich von ihnen zersiebt,
ein Wunder, dass es die Welt noch gibt!

Ethel Jacobson, Die Welt der Insekten

Vor etwa einer halben Milliarde Jahren begann eine schleichende Revolution. Auf dem schlammigen Grund eines urzeitlichen Ozeans machte sich eine Gruppe ebenso seltsamer wie wunderbarer Kreaturen daran, die Welt zu erobern. …“ so beginnt das Kapitel „Insektenimperium“ des Buchs mit dem Originaltitel „A Buzz in the Meadow“.

Wenn der Nagekäfer zweimal klopft
Das geheime Leben der Insekten
Dave Goulson, Sabine Hübner – Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (22. Februar 2016)
Gebunden, 320 Seiten, EUR 19,90
ISBN-13 978-3446447004

Diesem Buch merkt man an, dass der Autor nicht nur Spaß an seiner Forschung hat, sondern diesen Spaß – zusammen mit fundierter Information – auch bis in die kleinsten Details zu vermitteln weiß. Schon sein Hummelbuch „Und sie fliegt doch“, hat mich so sehr fasziniert, dass ich seitdem sehr viel wacheren Auges durch die Natur und vor allem Stadtnatur gehe.

„Hummelpapst“ Dave Goulson – von Kindesbeinen an Naturschützer und Verhaltensforscher – ist einer der weltweit versiertesten Insektenexperten. Der englische Professor für Biologie hat sein ganzes Leben dem Schutz der Insekten und der Wichtigkeit von Biodiversität gewidmet. Auf seinem Bauernhof in Frankreich renaturiert er ehemals landwirtschaftliche Flächen und schafft in seiner Freizeit insektenfreundliche Biotope.

„Ich habe Chez Nauche im Jahr 2003 gekauft … Das Haus wurde vor ungefährt 160 Jahren gebaut … durch die Nachlässigkeit des Vorbesitzers … wimmelt das Haus und die angrenzenden Gebäude von Leben. Viele – reagieren entsetzt, wenn sie eine Assel auf dem Teppich oder eine Ameise in der Küche entdecken. Von dieser Furcht sollte man sich in Chez Nauche schleunigst verabschieden, sonst ist ein Nervenzusammenbruch vorprogrammiert. Das Haus ist über die Jahrzehnte praktisch mit seiner Umgebung verschmolzen.“

Das von ihm gegründete „Bublebee Conservation Trust“ informiert und animiert Menschen in aller Welt zu Renaturierungsmaßnahmen, die helfen sollen, das Aussterben der bestäubenden Insekten zu verhindern. Beim begeisterten Verfassen von Newslettern für seine Sache entdeckte er seine Lust am Schreiben. So entstand „A Buzz in the Meadow“ – der Originaltitel dieses Buches.

Im Plauderton erzählt er in Episoden – die mit einem amüsanten kurzen Protokoll seiner morgendlichen Laufrunden in der Umgebung des französischen Bauernhofes beginnen – von dem uns meist unbekannten Verhalten so unterschiedlicher Spezies wie Schmetterlingen, Gottesanbeterinnen, gemeinen Schmeißfliegen, Wespen und Zweiflüglern – aber auch von Molchen, Treibhaus- und Wiesenblüten.

Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise durch die unglaublich vielfältige Welt der Insekten, deren Entstehungsgeschichte und Klassifizierung, extreme Verhaltensformen wie sexuellen Kannibalismus aber auch Vererbungslehre: Gendrift und Selektion am Bespiel von Schmetterlingen und letztendlich das arterhaltende Zusammenwirken zwischen Pflanzen und Tieren.

Mit klaren Worten beschreibt er komplexe Zusammenhänge: „Der Vorteil der Metamorphose besteht darin, dass sie eine Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Stadien des Lebenszyklus ermöglicht. Der Körper der Larve wurde durch die Evolution immer weiter auf möglichst schnelles Wachstum hin optimiert, während er vollkommen andere Körperbau des adulten Tieres für die Paarung ausgelegt ist. …“

Mitunter hat man den Eindruck, dass die erzählerischen Abschweifungen endlos sind, jedoch gelingt es ihm nicht nur immer wieder den roten Faden zu finden, sondern dem Leser erschließt sich nach und nach, was dem Autor mit diesem Buch am meisten am Herzen liegt: nämlich uns die Augen zu öffnen, für die allumfassenden Zusammenhänge in der uns umgebenden Natur.

Dies besonders in den letzten Kapiteln des Buches, die auf mich wie ein erschreckender Mahnruf wirken und sich vom Rest des Buches grundlegend unterscheiden. Zuerst wollte ich das Buch weglegen, so sehr war ich geschockt. Jedoch ist es wichtig zu begreifen, dass der Mensch das effektivste Raubtier auf unserem Planeten ist und seit Zigtausenden von Jahren andere Spezies verdrängt und ausrottet.

„Viele unsere Legend erzählen von Drachen und Ungeheuern, Elfen, Kobolden und Trollen. Das sind keine Mythen – wir haben wirklich mal in einer Welt gelebt, die voll solcher Wunderwesen war. Was ist all diesen Kreaturen widerfahren? Warum sind sie alle in einem relativ kurzem Zeitraum ausgestorben? Die Antwort lautet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass wir sie getötet und aufgegessen haben. Unsere 80000 Jahre währende Reise war eine einzige kulinarische Odyssee.“

Nur kann der Mensch nicht ohne den Menschen – und schon gar nicht ohne die Natur und die anderen darin lebenden Spezies existieren. Das beginnt bei Pflanzen, Algen, Bakterien und Mikroben und hört bei Wirbellosen und Insekten auf. Vielfach hingewiesen wurde auch von anderen bereits auf das Bienensterben und die damit verbundenen Gefahren für die Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen.

„Ich behaupte keine Sekunde lang, dass Neonicotinoide für Bienen, Hummeln oder andere wild lebende Tiere heutzutage das einzige Problem darstellen. Der Rückgang der Bienen ist zweifellos eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, vermutlich gehören dazu Seuchen, die Varroa-Milbe (im Fall der Honigbienen), der Mangel an Blüten, die abwechslungsarme Ernährung und schließlich die Auswirkungen verschiedener Pestizide – ein folgenschwerer Faktor von Stressfaktoren.“

Man sollte den Beteuerungen des Marketings nicht auf den Leim gehen, zu glauben, dass Gentechnik, Chemie und Pharma immer wieder verträgliche Lösungen bereitstellen werden, denn bisher haben alle Effizienzmaßnahmen der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie nur dazu geführt, dass immer prekärere Verhältnisse entstanden. Biodiversität – die Vielfalt von Arten und Lebensräumen – in Kombination mit integriertem Pflanzenschutz ist der einzig nachhaltige Weg.

Obwohl das Buch gänzlich ohne Bilder auskommt, meine ich, dass es mit seinem lockeren Erzählstil auch für Jugendliche geeignet ist. Es wird einerseits Vielfalt und Komplexität vermittelt, andererseits aber auch Mut gemacht „die Welt zu retten“. Einige längliche Passagen mit Studien habe ich überblättert. An einigen Stellen schienen mir – übrigens auch im englischsprachigen Original – technische Beschreibungen nicht nachvollziehbar genug. Trotz dieser kleinen Mängel hat das Buch einen festen Platz in meinem Regal gefunden.

20. Dezember 2016
von Joerg Kilian
Keine Kommentare

Erzählende Bilder

Zen des Daumenkinos

Es als „Büchlein im Postkartenformat“ zu bezeichnen, trifft nicht ganz den Kern. Dieser schneeweisse, bibliophile Ziegelstein wiegt fast ein ganzes Pfund (482g) und ist mit seinen mehr als 500 Illustrationen nicht minder inhaltsschwer. Das Layout ist liebe- und sinnvoll zurückhaltend gestaltet und gibt den einzelnen Bildern den erforderlichen Raum zum Atmen. Bereits die von Luc Sante sehr gut geschriebene und von Stefan Kleiner nicht minder gut übersetzte Einleitung gibt einen guten Vorgeschmack auf das, was einen auf den folgenden Seiten erwartet: ein Meisterwerk des grafischen Storytelling – angesiedelt irgendwo zwischen Cartoon, Comic-Strip und Droodle. Minimalistische Strichzeichnungen, die kleine Geschichten erzählen. Mich erinnern sie unmittelbar an den deutschen Klassiker „Vater und Sohn“ von Erich Ohser alias e.o.plauen.

Erzählende Bilder
Sequenzielle Zeichnungen aus dem NEW YORKER
Richard McGuire
aus dem Englischen von Stefan Kleiner
DuMont, 2016
gebundene Ausgabe, 584 Seiten
10,3 x 4,3 x 15,5 cm
EUR 25,-

Urspung dieser gezeichneten Geschichten sind sogenannte Vignetten, die Richard McGuire (RMG) seit vielen Jahren in der Zeitschrift NEW YORKER exzellent ausführt. Vignetten sind grafische, dekorative oder illustrative Elemente, die aus den analogen Zeiten des Journalismus stammen und am Rande, zwischendurch oder am Ende eines Artikels die Rolle eines Auflockerers oder Lückenfüllers spielten. Heute haben sie sich zu einer seltenen Kunstform entwickelt.
Die genialistische Reduktion des Dargestellen auf das Wesentliche lässt Grafiker und Zeichner vor Neid erblassen; hier ist ein Meister am Werk. Puristisch und voller Andeutungen und magischer Vibration im Weißraum, zwischen den einzelnen Strichen. Illustrationen und Logos aus Linien gleicher Stärke, sogenannte Monolines sind derzeit en vogue.

Manche der Geschichten kommen direkt aus dem Alltag mit seinen grotesken Situationen. Sie erinnern an die Standbilder eines Daumenkino. Andere sind konzeptionelles Kopfkino und in sich so stimmig und abgeschlossen, dass sie ohne den umgebenden Kontext auskommen und einen ganz besonderen Augenblick wiedergeben. Meine Lieblinge sind die Stilleben und „plauderhaften Gegenstände“, „Auf dem Tisch“, „Vogelkäfige“ und „Oben ist es laut“. Die Geschichten „Last“ und „Geburt“ am Ende des Buches überraschen durch einen Stilwechsel: Die erste in Grautönen mit räumlich dargestellten Objekten, die zweite in einer Mischung aus Grautönen und Strichillustration. Beide sehr gelungen!

Wenn Sie jemandem mit grafischem Gespür und feinsinnigem Humor eine Freude machen wollen, könnte dies Buch das richtige Mitbringsel sein.

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