Ein Weckruf für politisches Umdenken, der hoffentlich nicht – wie so viele andere verhallt. Das Buch richtet sich an alle, die die ursprünglichen linke Ideale nicht nur auf ihren Lippen tragen, sondern auch bereit sind, sie umzusetzen. Es ist voll unverhohlener Kapitalismuskritik, die jedoch berechtigt und belegbar ist. Die Bigotterie der westlichen Politik seit dem Kalten Krieg, im Balkan, im Iran und Irak, im Nahen Osten, in Syrien und jetzt in der Ukraine wird systematisch entschleiert.
»Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.«
Jean Jaures
Aus die Maus Der Blick von unten auf die da oben von Żaklin Nastić Das Neue Berlin, 2023 Broschiert, 192 Seiten ISBN 978-3360027566 EUR 16,- eBook EUR 12,99
Das Buch hat mir von Anfang an gefallen. Trotz der sehr komplex dargestellten politischen Sachverhalte, ist die Lektüre sehr schlüssig, da eine sehr klare und leicht verständliche Sprache verwendet wird, die mitunter sogar unterhaltsam ist: süffisant, ironisch, polemisch. Das Buch ist ein Manifest der politischen Position und parlamentarischen Arbeit der Autorin. Authentisch, sympathisch unnachgiebig. Ich kaufe es ihr ab!
Wer Erde und Menschen im Interesse des Profits ausbeutet und auf diese Weise weltweit für wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit sorgt, wer Kriege führt und Menschen tötet, hat das moralische Recht verwirkt, anderen die Maßstäbe für Freiheit und Demokratie zu diktieren.
Żaklin Nastić schreibt über die wirklich sehr sinnvolle Arbeit ihrer Partei, DIE LINKE, die mittels Kleiner Anfragen im Bundestag die Entscheidungen der Mainstream-Politik kritisch beleuchtet. Der gesellschaftliche Hintergrund und die politischen Erfahrungen der Autorin machen ihre Argumentation überaus glaubhaft. Die Inhalte wirken gründlich recherchiert und sind fast alle mit Quellen belegt.
Kleine Fragen müssen auf Wissen gründen, einen realen und nachweislichen Grund haben und, wie es heißt, zielführend sein. Schüsse ins Blaue bringen nichts. Man muss genau wissen, was man will. Es ist wie Schach spielen. Mögliche Züge, d. h. die erwartbaren Reaktionen muss man im Voraus planen und darauf die nächsten Fragen ausrichten.
Leider muss man dem Verlag ein mangelhaftes Lektorat vorwerfen. Der Fehlerteufel hat mehrfach zugeschlagen; beispielsweise „Gander Gap“. Trotzdem war es für mich eine wertvolle Lektüre, nicht zuletzt, weil es mir wieder einmal geschichtliche und politische Zusammenhänge vor Augen führt, die man nur allzu gern verdrängt, um das System, in dem wir uns alle mehr oder weniger bequem eingerichtet haben, nicht infrage stellen zu müssen.
Arno Geiger nimmt uns mit bei der Betrachtung von drei Jahrzehnten seines Doppellebens als Autor und Altpapierarchivar. Das Buch ist ein harmonischer Wechsel von reduzierter Schilderung und essayistischer Kontemplation, gelungenen Selbstzuschreibungen und uneitler Selbstergriffenheit. Es ist keine seichte Beichte, sondern ein Tagebuch der enthusiastischen Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Die dabei eher beiläufig wirkende sprachliche Kunst ist die herausragende Stärke des Autors.
„Denn in den Müll kommt, was erledigt ist, und in diesem Erledigten gibt eine Gesellschaft Auskunft über sich selbst. Für Archäologen sind ehemalige Stadtgräben, die mit Abfall aufgefüllt wurden, Goldadern. Die Archäologen wissen: Das Erledigte verkörpert eine Epoche so gut wie das bedeutendste Kunstwerk. Im Müll wohnt die Wahrheit. Und die Wahrheit muss irgendwann heraus: Das Leben besteht aus Unordnung, Verwirrung, Dreck und Tod. Wie ein wüst hingeschütteter Misthaufen ist die schönste, vollkommenste Welt.“ … „So kam es, dass ich vom guten Weg abwich und aufs Geratewohl losmarschierte auf ein Terrain, das gekennzeichnet ist von Schmutz und fehlender Schicklichkeit. Ich geriet in etwas hinein, das sich zunächst als Irrsinn erwies und später als eine gute Sache.“
Das glückliche Geheimnis von Arno Geiger Carl Hanser Verlag, 2023 Gebunden, 240 Seiten ISBN 978-3446276178 13,5 x 2,3 x 20,8 cm EUR 25,- eBook EUR 18,99
Das Buch hat mir richtig viel Lese- und Lebenslust gegeben. Die freudige Erregung des Protagonisten über seine geheimen Funde in den Altpapiercontainern Wiens und die Freude über das Teilen dieser Schätze mit uns, springt auf jeder Seite über. Ähnliche Gefühle hat bei mir nur der Text von Hermann Hesse „Über das Glück“ hervorgerufen. Auch in den Texten Geigers liegt etwas Verheißungsvolles. Das Glück kommt aus dem Moment und verbleibt auch dort.
„Es war beglückend, nach einer zur Gänze absolvierten Runde mit K. Kaffee zu trinken, ihr das Gefundene zu zeigen und darüber zu reden. Später hielt ich einen Mittagsschlaf, abgeschieden von der Welt. Ich legte mich aufs Bett mit einem zufälligen, am Vormittag gefundenen Buch. Ich las in diesen Büchern anders als in gekauften Büchern, in freudiger Erregung, als falle mir etwas vom Himmel in die Schürze. Irgendwann nickte ich ein und schlief so fest, dass ich nichts mehr hörte vom Rumoren der Stadt.“
Das glückliche Geheimnis geht weit über das „literarische Containern“ hinaus. Wir werden mitgenommen durch die Irrungen und Wirrungen eines Literatenlebens mit all seinen Höhen und Tiefen. Über die Grenzen des Erwartbaren hinaus, lässt uns Arno Geiger an Erfolgen und Mißerfolgen seines beruflichen und privaten Lebens teilhaben. Es geht um die Kunst des Aufbewahrens und Entsorgens, des Einordnens und Neubewertens, um Retrospektion und Vergänglichkeit. Es ist ein Buch über das Altern und die Weisheit, über die Selbstbegegnung und das Staunen, über die Lebensfülle und das Auswählen.
„Ich begriff, dass das echte Leben gewöhnlich ist und trotzdem vielschichtig und dass auch ein vielschichtiger Satz gelassen formuliert sein kann. Es stellt erstaunlich hohe Ansprüche, einen schlüssigen Gedanken zu for mulieren, der nicht in jeder Sekunde signalisieren will, wie bedeutend er ist. Das am wenigsten wichtige Stück des hochkulturellen Ballasts, mit dem ich mich bisher getragen hatte, warf ich schrittweise ab: das sprachliche Auftrumpfen. Ich nahm mir vor, ein Künstler des Ungekünstelten zu werden.“
Ein Geheimnis dieses Textes ist die Vielschichtigkeit der Einsichten, von denen keine nur privat daherkommt, sondern alle in einem Großen Ganzen gesehen werden. Neben Bezügen zu Sören Kierkegaard, Arno Schmidt und Marcel Proust haben mich besonders die Ausführungen über die auch von mir hochverehrte Agnès Varda („Schutzheilige der Abfallsammler“) und Greta Thunberg berührt. Ein gutes Buch ist zwar nicht vordergründig, jedoch auch immer – politisch.
„Der Film [Die Sammler und die Sammlerin] ist eine Spurensuche, wie tief das Herumstreifen und Sammeln in die Natur des Menschen eingeschrieben ist, ein Nachdenken über das Sammeln als Kulturtechnik, als menschliches Grundbedürfnis, egal ob aus Not oder Neigung. Meist findet es am Rand der Wohlstandsgesellschaft statt, am Rand der Hauptrouten industrieller Verwertung. Immer fällt irgendwo etwas ab, ein Rest, um den es schade wäre, wenn er verlottern, verrotten oder verschrottet würde. Agnès Varda teilte mir mit, es finde sich auch im Wertlosen ein Reichtum, wenn man nur willens ist, ihn zu suchen.“
„Ganz nebenbei gesagt, mir gefällt Greta Thunberg, diese meistens ernst, geradezu finster dreinblickende Person mit ihren dünnen Zöpfen. Greta Thunberg ist als Verletzliche kenntlich, und es hat für mich etwas Überzeugendes, dass eine verletzliche Person für Verletzliches eintritt, nicht bittend, sondern anklagend. Greta Thunberg personifiziert ihr Anliegen. Ich stehe auf ihrer Seite.“
Vor zwei Wochen habe ich zu lesen begonnen. Normalerweise brauche ich für ein zu besprechendes Buch ein Wochenende. Hier habe ich das Ende der Lektüre so lang es geht hinausgezögert. Ich wollte einfach nicht, dass das Buch endet; so intensiv hat es mich über weite Passagen in Beschlag genommen. Mehr als einhundert Notizen habe ich angefertigt und fast ein Fünftel des Buches für Zitate kopiert.
„Darf er das überhaupt? Diese Frage wird stehenbleiben, weil Einigkeit nicht erzielt werden kann, das weiß ich. Mich haben immer die Grauzonen angezogen, in den Grauzonen verbirgt sich das eigentlich Menschliche. In der Grauzone fordert der Mensch die Gesellschaft heraus, und in diesem Spannungsfeld entwickeln sich beide.“
Das eBook hatte ich mir auf mein kleines iPhone kopiert, was in allen Lebenslagen einen intimen Zugang zum Stoff möglich macht. Neue Literatur lese ich meist so, ältere Bücher eher auf Papier, aus dem Antiquariat. Ich halte das für ressourcenschonend und eBooks landen zumindest nicht im Altpapier.
Ein Weltverbesserer der anderen Art, den wir hier kennenlernen, der mit seinem zarten Habitus, flankiert von stoischem Gerechtigkeitssinn und einem hohen Grad an Einfühlungsvermögen, eine glanzvolle Karriere in der Designbranche hingelegt und mit seinem vortrefflichen Sinn für Ästhetik unsere Welt schöner und richtiger gemacht hat. Rückblick auf ein erfülltes Leben. Im Vorwort huldigt Antoine Wagner, Urenkel des Komponisten und Freund und Vertrauter von Peter Schmidt, den Designer als kosmopolitischen Poeten und präzisen Beobachter:
„Der Kontrast zwischen dem Minimalismus seines Werks und der Opulenz seines Wissens bleibt einmalig.“
Der Designer Peter Schmidt: Eine Biographie von Bernadette Schoog Berg & Feierabend Verlag, 2020 Gebunden, 240 Seiten ISBN 978-3948272050 14,1 x 2,6 x 21,7 cm EUR 24,-
Das Buch hat mir eine Freundin zum Geburtstag geschenkt. Selbst hätte ich es wohl nicht gekauft, da mich Biografien nicht sonderlich ansprechen – obwohl mich der Designer Peter Schmidt immer interessiert hat. Zweimal habe ich ihn persönlich getroffen; erst bei einem Vorstellungsgespräch in den 1980er-Jahren, später bei einer Feier im Hamburger Museum für Völkerkunde. Viel verbindet mich mit dem Menschen, der vom Alter her mein Vater sein könnte: Auch ich bin passionierter Designer, bin in einer Gärtnerei aufgewachsen, stehe der taoistischen Philosophie nahe und schreibe gelegentlich Haiku-Gedichte. Bei der Lektüre des Buches muss ich mich immer wieder ermahnen, dass ich nicht den Designer selbst, sondern das Buch über sein Leben rezensiere.
Erschienen ist das Buch eine Woche vor dem ersten Corona-Lockdown, nachdem Peter Schmidt im Dezember zuvor zum Hamburger des Jahres gekürt wurde. Sein designerisches Werk ist aus unser aller Leben nicht wegzudenken: Seine Parfumflakons, Erscheinungsbilder und Logos aber auch Porzellanservice und Bühnenbilder sind weltweit anerkannt und wurden vielfach prämiert. Bereits 2010 kam das Buch „Inszenierte Welten“ über den Gestalter Peter Schmidt heraus. Jetzt, mit Anfang 80, der richtige Zeitpunkt über eine aktuelle Darstellung nachzudenken. Die vorliegende leicht zugängliche Biografie hat er zusammen mit der Moderatorin und Autorin Bernadette Schoog verfasst.
Auch wenn die einzelnen Kapitel über das schillernde Leben des Designers in der dritten Person und im streckenweise gelängten plauderhaften und mit Anekdoten und Zitaten gespickten Erzählstil einer Home Story geschrieben sind, lässt sich dahinter die nicht ganz uneitle Gesprächsführung und Handschrift des Designers vermuten, der sich erst am Ende des Buches in der ersten Person altersweise und moralisch äußert:
„Wir haben unser aller Schicksal in die Hände von Menschen gelegt, die gar nicht mehr verstehen, wie schön das Leben sein kann. Viele Politiker sind nur noch an ihrer eigenen Karriere interessiert und nicht mehr an ihren Aufgaben zum Wohl der gesamten Gesellschaft. Die Unternehmen haben Angst und erstarren in Althergebrachtem, anstatt zu begreifen, dass sich alles verändern wird, alles, unser Leben, unsere Umwelt, unser Dasein. Sehr gerne würde ich noch einmal leben, um zu sehen, was aus all dem geworden ist, …“
Überhaupt wird das Buch erst im letzten Drittel richtig interessant, wenn der Designer kritische Betrachtungen über sein Leben und Wirken durchblicken lässt. Wichtig scheint ihm vor allem der persönliche Kontakt zu den Menschen seiner diversen „Familie“, die aus engen Freunden, Adoptivkindern, Geschäftspartnern und anderen Verbündeten und Seelenverwandten besteht, die – wen würde es wundern – alle der Kunst, der Kultur und dem „guten“ Leben zugeneigt sind.
Viele Aspekte seines Lebens werden jedoch nur schablonenhaft dargestellt. Die Person Schmidt wird unnahbar auf einen Piedestal gestellt. Nur Eingeweihte haben einen Zugang zum Menschen Peter. Sein gesundheitliches Befinden wird nur durch die fast beiläufige Erwähnung eines Herzinfarkts gestreift. Und was mich noch interessiert hätte: Was isst er gern, wenn er schon nicht selbst kochen mag?
Dem Alterungsprozess wird jedoch die eine oder andere Bemerkung gewidmet:
„Vielleicht, so sinniert er, ist es aber auch richtig, im Alter körperlich nicht mehr so stark zu sein, den Rausch des Lebens nicht mehr so intensiv zu spüren, Glück nur noch im Betrachten einer Blume, im Lesen eines Gedichtes, im Hören einer Musik zu empfinden, um den Fokus mehr auf das Reflektieren dessen legen zu können, was gewesen ist.“
Immer wieder werden Anspruch und Haltung des Designers zitiert:
„Es geht … nicht um einen Stil, um Geschmack und Eleganz als einzige ästhetische Parameter. Sie müssen ergänzt werden um die Dimension der Moral. Es heißt, dass mehrere Freunde seine Ästhetik als »eine Form des gesellschaftlichen Widerstandes, aber auch als Bekenntnis zum Wert des Lebens, zu Schönheit, Liebe und Zukunft« bezeichnen, … alle sind sich einig: er verkörpert das Gegenteil von Langeweile und Stagnation. Immer im Umbruch, immer auf der Suche. Guter Geschmack entsteht nur dann, wenn man etwas mitzuteilen hat, so seine Überzeugung. Guter Geschmack und gutes Benehmen sind notwendig, wenn man einen kultivierten Weg gehen will. Beides bedingt sich, beides erwächst aus einer Demut vor der Aufgabe …“
Seine Attitüde und Geschmackssicherheit werden in einer Laudatio von André Heller trefflich fabulierend umschrieben:
„Der Designer Peter Schmidt sei »wahrscheinlich ein burmesischer Italiener, der sich als Deutscher tarnt. Sein Beruf ist das Schlafwandeln durch Territorien des vollkommenen Geschmacks.«“
Auch zum Designprozess gibt es anschauliche Beispiele:
„Das muss nicht zwangsläufig die für den Designer beste Lösung sein, sondern der individuell gestaltete Entwurf, um ihm ein Gefühl der Erneuerung und des Aufbruchs zu geben, das ihn [den Kunden] nicht überfordert. Und trotzdem muss bei ihm der Eindruck entstehen, die Zukunft mit den Fingerspitzen gerade schon berühren zu können. Der Designer hat vielleicht aus seiner Wahrnehmung heraus einen Entwurf vorgelegt, der einen Vorgriff auf die nächsten zehn Jahre beinhaltet Aber während der Präsentation merkt er, dass das Gegenüber maximal fünf Jahre Vorgriff aushält. … „
um dann den Entwurf anzupassen:
„So konnten sie ihrem Auftraggeber das Gefühl geben, durchaus mutig neue Wege zu beschreiten, visionär zu sein, aber ohne die Angst, der Länge nach hinzuschlagen, weil die Größe der Schritte angepasst worden war. Peter Schmidt habe immer höchsten Wert darauf gelegt, Lösungen erst dann zu finden, wenn das Problem bekannt ist. Nicht ein Überstülpen von vorgefertigten Ideen und Vorschlägen, sondern maßgeschneidert entlang der Erfordernisse des jeweiligen Kunden. …“
Alles in allem ein Buch, das mich fasziniert hat und dass ich getrost weiterempfehlen kann – vor allem bibliophil. Das Cover ist erwartungsgemäß von seinem eigenen Designteam „The Studious“ gestaltet. Das Schwarzweißfoto, das den Designer von der Seite am Tisch sitzend zeigt – vor ihm eine Wasserflasche Apollinaris – ist in sorgsam abgestuften Grautönen gehalten. Als aktive Klammer stehen der Buchrücken, die Rückseite des Umschlags, sowie Vor- und Nachsatz in scharfem Rot – eben in genau dem Apollinaris-Rot, dass sein Design so bekannt macht.
Für den Schriftsatz wurde die sehr gut lesbare ITC Legacy Serif verwendet. Die Schrifttype DIN wird in Überschriften, sowie auf dem Cover in dezenten Reliefversalien eingesetzt. Das Papier des Buchblocks ist schneeweiß, unerwartet steif, hat eine sehr angenehme Haptik und eine unverwechselbaren Klang bei Blättern. Die Abbildungen einiger Design-Highlights auf den letzten Seiten des Buches sind auf einem anderen, matt gestrichenem Kunstdruckpapier brilliant wiedergegeben. Bei aller Makellosigkeit des Gesamtwerks hat sich jedoch an drei Stellen ein kleiner Fehlerteufel zu schaffen gemacht, die ich den Herausgebern auf Verlangen gern zeigen werde.
Erstaunt hat mich, dass diese Rezension möglicherweise die erste zu diesem Buch ist. Zumindest habe ich im Internet keine weitere gefunden. Bitte um Hinweise …
Bereits seit den 1990er Jahren ist Korea popkulturell auf dem Vormarsch. „K-Culture“ oder die „Koreanische Welle“ ist seitdem in die globale Kulturszene geschwappt und hat in den letzten Jahren – vor allem wegen der Vernetzung sozialer Medien – zunehmend Fahrt aufgenommen und an Bedeutung gewonnen; im Mainstream vor allem im Bereich Musik (Gangnam Style) und Film (Squid Game). Was ist der K-Style, der mittlerweile alle Kulturräume abdeckt: Kunst, Design, Fashion, Kosmetik, Tatoos, Food, Foto, Industriedesign, Architektur und Interieurarchitektur? Was zeichnet ihn aus? Dieser Frage geht dieses Buch nach und zwar aus der Sicht der Protagonisten der Szene in Seoul.
„Die Anfänge des K-Pop sind älter als die sozialen Medien. Vielleicht sogar älter als das Internet.“
K-Pop, K-Style: Music, Art & Fashion aus Südkorea von Fiona Bae aus dem Englischen von DR. Cornelia Panzacchi Fotografien: less_TAEKYUN KIM Originaltitel: Make Break Remix. The Rise of K-Style Edel Books, 2022 Gebunden, 304 Seiten ISBN 978-3841908193 15,0 x 2,8 x 21,8 cm EUR 26,-
Das mehr als 300 Seiten starke Buch hat ein halbes Duzend Bildstrecken auf Kunstdruckpapier mit Fotos vom Szenefotografen less_TAEKYUN KIM, der die Stimmungen, rund um das aktuelle Kulturgeschehen in Seoul wunderbar eingefangen hat. Dazwischen gibt es ausführliche Interviews mit tonangebenden Akteuren der K-Culture, die teilweise bereits seit Jahrzehnten dabei sind und die Entwicklungen stark beeinflusst haben. Der Fokus wird dabei auf die Keimzellen der Kultur – die Untergrundszene gesetzt.
„Der K-Style mixt alles Coole mit einer gewissen Dynamik. Das erregt sofortige Aufmerksamkeit.“
Sobald etwas im Mainstream angekommen ist, muss es einen neuen Dreh geben, der für Aufmerksamkeit sorgt. Daraus entstehen zyklische Prozesse der Erneuerung. Es geht darum Grenzen auszutesten. Viele der Akteure sind Autodidakten, die innerhalb der Community ihr Selbstverständnis entwickeln. Korea hat ausgeprägte handwerkliche Traditionen, die gepaart mit der Intuition des Schamanismus und den Werten des Konfuzianismus zu – für westliche Augen – ungewöhnlichen Lösungen führen.
„In der Vergangenheit standen wir vor den Endergebnissen, ohne etwas über den Schaffensprozess zu wissen.“
Um zu verstehen, warum ausgerechnet in diesem kleinen Land, das zwischen China und Japan eingezwängt ist und erst seit 1988 eine Demokratie bekommen hat, eine solche Kulturexplosion stattfindet, muss man die geschichtlichen und kulturellen Hintergründe, aber auch die aktuellen politischen Strategien betrachten. Seit dem globalen Erfolg der K-Culture wird die gesamte Kulturszene mit einem staatlichen Budget in der Größenordnung von 1% des GNP gefördert. Diese Tatsache allerdings, wird in dem Buch nicht erwähnt.
„Die Leute ahmen ständig nach und entfernen sich so immer weiter von Originalität und kreativer Identität.“
Die meisten der koreanischen Akteure haben ihre Wurzeln im Ausland, dort studiert oder gelebt. Die Verbindungen zu den USA und Japan sind dabei am stärksten. Die koreanische Gesellschaft ist sehr traditionell und homogen und wird durch die K-Culture stark herausgefordert. Allerdings führt genau diese Reibung zu der Innovation, die hier täglich stattfindet. Die Szene der Kulturschaffenden ist trotz ihrer Schnelllebigkeit und vermeintlichen Oberflächlichkeit sehr stabil und wird von großer Solidarität getragen.
„Viele Idole haben eine gewisse Wirkung. Jedes Produkt, mit dem sie gesehen werden, ob es Chips oder Papiertaschentücher sind, verkauft sich wie von selbst.“
Die Autorin Fiona Bae ist in Korea aufgewachsen, hat dort an der Yonsei-Universität studiert, lebt und arbeitet seitdem überall auf der Welt und wirbt leidenschaftlich für die Kultur ihres Landes. Nach Stationen in New York und Hongkong lebt die PR-Beraterin derzeit in London, von wo aus sie kulturelle Brücken zwischen Korea und dem Rest der Welt schlägt. Sie organisiert internationale Events und berichtet in der englischsprachigen Presse über das Stadtleben und die Design- und Kunstszene von Seoul.
„Die koreanischen Modemarken müssen heute nicht einfach nur Kleidungsstile herstellen, sondern außerdem laufend neue Modelle anbieten, um als Marke direkt mit dem Kunden zu kommunizieren.“
Die deutsche Ausgabe des Buchs ist bei Edel Books erstaunlicherweise einige Wochen vor der englischen Originalversion „Make Break Remix. The Rise of K-Style“ (erscheint am 22. November 2022 bei Thames & Hudson) herausgegeben worden. Dass das Original von der Koreanerin Fiona Bae auf Englisch verfasst, und dann ins Deutsche übertragen wurde, merkt man dem Text durchaus an. Er wirkt recht glatt und nüchtern, oft unemotional abgespult, ohne jegliche sprachliche Finesse, was jedoch der Authentizität der Interviews nicht schadet. Als Satzschrift wurde eine sehr schlichte Grotesk gewählt, die gut lesbar ist, jedoch durch ein unproportional gestaltetes „ß“ auffällt.
„Beim K-Style geht es darum, der eigenen Stimme Ausdruck zu verleihen.“
Mir hat das Buch so gut gefallen, dass ich es ganz fasziniert an einem Tag durchgelesen habe. Zu Intensiverung der Stimmung habe ich dabei eine Playlist des aktuellen K-Pop gehört. Als Designer bin ich weder besonders musikaffin noch habe ich sublime Kenntnis der koreanischen Kultur, bekomme jedoch durch dieses Buch einen kleinen Einblick in die Kulturexplosion Koreas, den ich mit Sicherheit vertiefen werde. Eine Reise nach Seoul steht in den kommenden Jahren an …
Wir blicken in die phantastisch poetischen Innenwelten eines 15-jährigen Jungen, der im sowjetsozialistischen Bukarest aufwächst und die Geheimnisse und Wahrnehmungen seiner Existenz auf magisch realistische Weise beschreibt. Ein außergewöhnlicher Coming-of-Age-Roman, der einen mit seinen wortgewaltigen Arabesken und hypnotischen Bildern geradezu verschlingt. Etwas Vergleichbares habe ich noch nie gelesen. Die phantastischen Paralleluniversen eines García Márquez oder Murakami wirken dagegen fast harmlos. Der Dichter schreibt so, wie ich schreiben würde, wenn ich es könnte.
Melancolia Erzählungen von Mircea Cărtărescu aus dem Rumänischen von Ernest Wichner Cover-Illustration von Daniel Wimmer Zsolnay Verlag, 2022 Gebunden, 272 Seiten ISBN 978-3552073050 13,4 x 3 x 20,8 cm EUR 25,- eBook EUR 18,99
Angesprungen hat mich das Werk wegen des grafischen Titels „Melancolia“ und der Cover-Illustration, einem Gemälde von Daniel Wimmer, das einen Jungen in Badehose zeigt, der in unnachahmlichen Haltung dem Betrachter im Vorbeigehen ein Geheimnis – oder aber nur etwas Freches – zuzurufen scheint. Vielleicht aber meditiert er nur, mit geschlossenen Augen. Melancolia ist auch der Titel eines Stichs von Albrecht Dürer, der mich von jeher fasziniert hat. Melancholie wird heute weitestgehend durch den Begriff Depression ersetzt.
Melancolia ist das jüngste Buch des Rumänen Mircea Cărtărescu, der wichtigste Schriftsteller seiner Heimat und als Kandidat für den diesjährigen Literaturnobelpreis benannt. Er wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf; sein spiegelbildlicher Zwillingsbruder verstarb im Kleinkindalter. Die Erzählungen in Melancolia atmen in jeder Zeile Einsamkeit und Verwaisung, aber auch Verwunderung und Staunen über das blanke Dasein. Man merkt in den Erzählungen, dass sich der Autor zeitlebens mit Poesie beschäftigt hat.
Der Prolog des Buches entführt uns in eine kaleidoskopische Traumwelt, die einem Bild M. C. Eschers entsprungen scheint, in der der Protagonist das Universum zum Tanz herausfordert. Im Hauptteil wird die melancholische Welt des autistisch erscheinenden Jugendlichen ausgebreitet. In allen Details werden die Stimmungen visualisiert, so dass man Innen nicht mehr vor Außen unterscheiden kann. Nur in kleinen Portionen lassen sich die Passagen verdauen ohne, dass Einem schwindlig wird; die Orientierung verliert.
Während Mutter und Vater nur als imaginierte Überpersonen auftauchen, trifft der Erzähler erst im Mittelteil des Buches auf einen echten Menschen, ein gleichaltriges Mädchen, in dessen Gegenwart er sich wirklich fühlt; fast lebendig. Durch das feminine Gegenüber erhält er eine Identität und kann sich, sein Dasein, seine Gefühle und adoleszenten Unsicherheiten erstmalig spiegeln. Unbekannte Sehnsüchte erwachen in ihm, die zu atemberaubenden Schilderungen einer metamorphen Wandlung auf dem Weg zum Erwachsen führen.
Der Epilog schließt am Ende den Kreis zum Tanz des Prologs. Zusammen mit dem Erzähler durchs All taumelnd, ahnen wir zu wissen, dass wir nichts wissen und ewig suchen werden, ohne je ans Ende zu gelangen. Ich lese wie ein Verdurstender auf der Suche nach Erlösung. Die letzten Worte lassen mich in Tränen zerfließen. Wer Freude daran hat, sich an philosophischen Gedankenströmen und mittels Sprache erzeugten synästhetischen Bildern und Stimmungen zu berauschen, sei dieses außergewöhnlich poetische Buch empfohlen.
Hier noch einige Goldkörner aus dem Text:
„Die Küche war hell, am Morgen beinahe durchsichtig, wurde leblos gegen Mittag und wie eine Zeichnung, während abends sich das Licht darin beinahe blutrot verfinsterte und die Wände mit dunkel bernsteinfarbenen Streifen überzog. Manchmal verharrte das Kind stundenlang, um den Einfluss dieser Lichtveränderungen auf das Muster des Wachstuchs auf dem Küchentisch zu beobachten: Stieglitze, Kanarienvögel, blaue Vögel mit unbekanntem Namen, die sich mit Maden und Hirschkäfern abwechselten. Er hatte es geschafft, den genauen Zeitpunkt zu erwischen, an dem die Zeichnung dreidimensional wurde und sich so schön über dem Tisch erhob, dass man glauben mochte, die Insekten und Vögel seien lebendig. Spät abends, wenn die Sonne hinter der Fabrik versank, blieb von dem Wachstuch nur noch ein verdämmernder Glanz im Halbschatten der Stube sowie der plötzlich wie eine aufgeblühte Magnolie in der ganzen Küche sich ausbreitende chemische Geruch.“
„Unbegreiflich welkte das Licht auf den Abend hin.“
„Im Flur herrschte eine matte Stille von vor dem Erscheinen der Ohren auf der Welt.“
„Und nun begannen die Schatten auch noch zu sprechen, mehr noch, mit hoher und triumphierender Cembalo-Stimme zu singen, denn der Junge, über sie gebeugt, das Haar herabbaumelnd und glänzend, sprach nun, sang nun mit zwei Stimmen zugleich, als hätten sich in seiner kleinen rosa Kehle die Stimmbänder getrennt und unterschiedliche Partituren überreicht bekommen.“
„Er schaute sie vor allem total verwundert an, wunderte sich nicht allein über ihre Haare aus rotem Draht, die in alle Richtungen abstanden, sondern auch über die Tatsache, dass sie sprach, dass sie ihre Finger bewegen konnte, dass ihr Herz schlug, dass sie, wenn sie durch den Hof ging eine Strecke zurücklegte, dass sie jeden Tag mit ihm eine halbe Stunde älter wurde.“
„Die Luft strömte wie ein sehr schnelles Wasser durch den Canyon der leeren Straße. Den feuchten Fassaden fehlte der gewohnte Kontrast von Licht und Schatten: Sie wirkten verdrießlich, da und dort von einem ungesunden Ausschlag befallen.“
„… wo nähmen sie die Wärme eines Atemzugs her, den es braucht, um den kristallinen Film aufzutauen, damit die Wörter von einem Mund zum anderen zirkulieren und lebendig werden können?“
Und, da ich kein Rumänisch kann, darf ich nur mutmaßen, dass dem Übersetzer Ernest Wichner eine meisterhafte Übersetzung gelungen ist. Leider sind allerdings der deutschen Schlusskorrektur mehr als zwei-drei Kleinigkeiten durchgerutscht.
Eine Bemerkung noch: Ich habe Melancolia als eBook gelesen. Abwechselnd auf drei verschiedenen Endgeräten (Computerbildschirm, Notepad und Smartphone). Immer häufiger lese ich digital, nicht nur weil ich bequemer zitieren kann, sondern weil ich meine, damit nachhaltiger zu lesen. Aber ist das wirklich so? Wenn ich den Stromverbrauch aller Stunden, die ich lese, zusammenrechne – zusätzlich noch die Energie, die nötig ist, um das eBook zur Verfügung zu stellen, herunterzuladen und zu speichern; kommt da am Ende der Ökobilanz nicht doch mehr zusammen, als bei der Herstellung und dem Vertrieb eines gebundenen Exemplar des Buchs verbraucht wird?
Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende. Harald Welzers bisher emotionalstes, sympathischstes und wichtigstes Buch in dem man viel von seiner Biografie erfährt. Auch ist es ein Rundumschlag, der das Leben, wie wir es kennen komplett in Frage stellt. Ein halbes Jahr vor dem Ukraine-Krieg erschienen, spiegelt sich darin bereits dieses Ereignis. Denn es geht um Endlichkeit, es geht um den Tod und das Ende. Unsere Gesellschaft hat unendliche Probleme, damit aufzuhören, immer wieder die gleichen Rezepte zu empfehlen.
„Aufhören ist als Kulturtechnik stark unterbewertet“
Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens von Harald Welzer S. FISCHER Verlag, 2021 Gebunden, 288 Seiten ISBN 978-3103971033 13,6 x 2,65 x 21 cm EUR 22,-
Im Herbst 2016 war ich bei einem Projekt in Peking im Rahmen einer Recherche auf die mir unbekannte Designdisziplin „Transformationsdesign“ gestoßen, deren Protagonist Prof. Harald Welzer an der Universität von Flensburg lehrt. Zurück in Hamburg suchte ich weiter und fand einige interessante Publikationen, auch „Transformationsdesign“, die mich in einige Anspekten stark ansprachen.
„Im Großen und Ganzen ist Transformationsdesign ein menschzentrierter, interdisziplinärer Prozess, der darauf abzielt, wünschenswerte und nachhaltige Verhaltens- und Formänderungen von Individuen, Systemen und Organisationen zu bewirken. Es ist ein mehrstufiger, iterativer Prozess zur Anwendung von Designprinzipien auf große und komplexe Systeme.“
Wikipedia (aus dem Englischen übersetzt)
Dann bekam ich Weihnachten 2019 von einem Freund das Buch „Alles könnte anders sein“ von Harald Welzer geschenkt. Der Freund hatte mir folgende Widmung in das Buch geschrieben: „Damit alles wird wie es bleibt“; ein Satz auf dem man eine Weile herumkauen kann. Wenige Tage später hatte ich Gelegenheit, den Autor des Buches auf einer Veranstaltung in Hamburg selbst kennen zu lernen und mir mein Exemplar signieren zu lassen. Dann kam Corona …
Ein Freund zeigte mir im Frühjahr 2022 das SPIEGEL-Interview mit Harald Welzer; über sein neues Buch „Nachruf auf mich selbst.“ Der Punkt hinter diesem Titel, der kein vollständiger Satz ist, soll wahrscheinlich andeuten, dass es keine weiteren Nachrufe geben wird!? An mir war komplett vorbei gegangen, dass der Autor im April 2020, gleich im ersten Lockdown, einen schweren Herzinfarkt erlitten hatte.
Mein Freund lehnt Welzer komplett ab, er sei ihm zu elitär, zu abgehoben und arrogant. Ich hingegen bewundere ihn genau wegen dieser eleganten Arroganz, weil er mit dem was er und wie er es sagt, absolut auf dem rechten Weg ist. Ich wollte das neue Buch unbedingt lesen und bestellte mir ein gebrauchtes Exemplar. Was ich sonst nicht mache: Ich begann mitten im Buch zu lesen und zu blättern …
Dann begann ich mit dem Kapitel: „Nachruf auf mein zu lebendes Leben“ das konkret das Nahetod-Erlebnis des Herzinfarkts behandelt und alles was sich daraus ergab. Welzer beschreibt seine Erfahrung so plastisch, gleichzeitig distanziert und mit solcher Selbstverständlichkeit, als wenn es nicht um ihn selbst ginge, sondern um eine dritte Person.
Das Buch handelt von der Endlichkeit, mit der wir alle früher oder später konfrontieret sein werden und auf die wir durch unsere Sozialisierung gar nicht bis ungenügend vorbereitet sind. Daher der Untertitel „Die Kultur des Aufhörens“. Es ist voller spannender paradoxal klingender Titel und Sätze, die die Neugier wecken.
Sehr schön ist im zweiten Kapitel eine Reihe von biografischen Portraits von Personen, die der Autor bewundert, für ihre Fähigkeiten die eigene Biografie bewusst zu hinterfragen, aufzuhören und etwas ganz anderes Neues zu beginnen oder mit ihrem Lebenswerk auf etwas Wesentliches zu beschränken. Im drittel Kapitel hat der Autor 15 Wünsche aufgeschrieben, die mit dem Satz beginnen: „Ich möchte, dass auf meinem Grabstein steht: …“ Das vierte Kapitel besteht aus wertvollen Merksätzen, Anmerkungen und Danksagungen.
Die vielen Unterkapitel sind wie Stationen einer Reise durch unterschiedliche kulturelle und philosophische Aspekte, wie wir das Leben und den Tod sehen, erleben und verstehen lernen können. Der Text ist somit viel persönlicher und weniger politisch als seine Vorgänger, von tiefem Erleben und Erkennen geprägt. Ein Satz hat mich besonders beeindruckt: „Was aufhören muss, ist voher wichtig.“ In ihm steckt die Weisheit eines Zen-Meisters.
Mein Vater hat immer gesagt, dass man eine Party dann verlassen sollte, wenn sie am Schönsten ist. Nur unsere Gesellschaft des „höher, schneller, weiter“ kennt keine Grenzen und kein maß. Sie versucht das erlebte Gute und extrem Gute immer noch weiter zu steigern und zu toppen. Das funktioniert auf Dauer jedoch nicht, weder für den Einzelnen, noch für die Gemeinschaft.
Welzer ruft nie zu Verzicht auf, sondern zu Mäßigung und grundsätzlichem Hinterfragen, ob das was wir machen, überhaupt einen Sinn ergibt, oder ob man es ganz anders – lebenswerter – machen könnte.
„Soweit ich sehe, gibt es auch keine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Endlichkeit menschlicher Bemühungen befasst. Zwar gibt es Regalmeter apokalyptischer Schriften, nicht nur aus der esoterischen Abteilung, sondern vor allem aus der öko- und klimatologischen, aber die enden dann alle nicht mit einem »Lasst fahren dahin«, sondern mit dem unvermeidlichen »Es ist noch nicht zu spät.« Und dann folgen ebenso unvermeidlich »die gemütlichen kleinen Gesten des Fahrradfahrens, Energiesparlampen-Benutzens, Kurzduschens und Elektrogeräte-Reparierens«, wie Eva Horn angemessen wütend formuliert. Das Ende und die Endlichkeit kommen nur unwissenschaftlich vor, in der Lebenserfahrung, in der Literatur oder in der Kunst. Und, natürlich, in der Religion und damit in der Apokalypse. In der wissenschaftlich-technischen Welt gibt es dafür keinen Platz, was ungünstig für den Fall ist, in dem man es tatsächlich mit einem Endlichkeitsproblem zu tun hat.“
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Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und blättere noch häufig darin. In der Zwischenzeit habe ich es vielen Menschen empfohlen und geliehen. Daher musste ein zweites gebrauchtes Exemplar her, das ich heute am Ostermontag einem guten Freund vorbeibringen werde. Denn es ist vielleicht das wichtigste Buch des vergangenen Jahres und die darin enthaltenen Botschaften müssen unter die Menschen kommen …
Auf Bücher stoße ich nie zufällig. Sie liegen immer zur rechten Zeit auf meinem Weg. Neulich bin ich durch einen Facebook-Post auf einen Titel aufmerksam geworden, der mich sofort in seinen Bann zog. Sogleich habe ich in einer digitalen Kopie des Buchs zu lesen begonnen und fühle mich in Form und Inhalt absolut angesprochen und in meiner Wahrnehmung bestätigt.
CORONA, KLIMA, GENDERGAGA Der große Aufbruch in eine Welt ohne Vernunft von Ramin Peymani BoD – Books on Demand, 2022 Broschiert, 180 Seiten ISBN 978-3755776369 14,8 x 1,07 x 21 cm EUR 12,95 | epub eBook EUR 7,99
Aber habe ich Mut genug diese Rezension zu schreiben, Angst vor dem Applaus von der falschen Seite? Was, wenn ich mit meinen Gedanken anstoße, unreflektiert im Lager der „Querdenker“ verortet werde? Warum mache ich mir Sorgen, als „Corona-Leugner“ oder „unbelehrbarer Ewiggestriger“ abgekanzelt zu werden? Mal ehrlich: Gehört heutzutage Mut dazu, seine verfassungsmäßig garantierten Rechte zu nutzen?
Nein, es gehört Mut dazu, sich in der Ukraine unbewaffnet einem russischen Panzer entgegen zu stellen, jedoch nicht hier seine Meinung zu äußern. Dazu sollte Jede und Jeder sich aufgerufen fühlen, um unser freiheitliches System, unsere Demokratie, all das, was wir uns seit der Gründung der Bundesrepublik an Freiheitsrechten errungen haben, zu schützen. Es ist unsere Pflicht als Bürger, als „Citoyen“, als Menschen, als denkende Wesen!
Das Buch befasst sich umfassend kritisch mit der gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte – insbesondere jedoch mit deren Auswirkungen innerhalb der letzten zwei Jahre: Deutschland im Spiegel von Europa und der Welt. Der Titel weist auf die Fokusthemen hin, mit denen wir täglich bombardiert werden, als wenn es nichts anderes Wichtiges mehr gäbe und die alle Maßnahmen der Regierenden zu rechtfertigen scheinen.
Als das Buch im Februar 2022 veröffentlicht wurde, ahnte wahrscheinlich nicht mal der Autor, dass nur Tage später Russland die Ukraine überfallen und dem Themenkreis weitere Brisanz hinzufügen würde. In ihrem Gastbeitrag beschreibt Vera Lengsfeld in einem nüchternen, unaufgeregten jedoch einprägsamen und empathischen Ton, die Gefahren die uns aus der Aufweichung unserer Grundrechte durch die Regierenden drohen:
„Aber allzu schnell hat die Politik Gefallen an der neuen Macht gefunden. … Statt die verhängten Maßnahmen zu evaluieren, also auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen, werden sie einfach weiter in immer schärferen Formen verhängt und immer härtere Zwangsgelder gefordert. …“
Ramin Peymani, Ex-Banker und Fußballfunktionär ist heute Privatier und publiziert seit Jahren kritische Bücher zu gesellschaftlichen und politischen Themen. Ich kenne die anderen Bücher nicht, gewinne jedoch bei diesem den Eindruck, dass der Autor über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte unsere Regierungen scharf beobachtet und recherchiert hat. Die präsentierten Fakten kann ich zwar nicht überprüfen, stimmen jedoch mit meinen Eindrücken überein.
In den vergangenen Jahren gab es viele aufrüttelnde Titel wie „Wenn nicht wir, wer dann“ oder „Erzürnt Euch!“. In dieser Tradition steht auch dieses Buch: Ein zorniger Fanal gegen die Dummheit der Welt. Die Illustration des Covers zeigt einen wahrhaft erzürnten Dämon, der fast an dem Wortwust in seinem Maul erstickt. Im Stil sicher, im Ton empört, spöttelnd bis sarkastisch, oft an der Grenze zum Polemischen, schleudert der Autor seine Sätze heraus:
„Den Fanatikern, die das ökosozialistische Utopia für real existierend halten und den Umbau der Gesellschaft zu einer kollektivistischen Schafherde anstreben, ist kein Manöver zu plump im verzweifelten Versuch, ihre zum Scheitern verurteilten Marxismus-Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen.“
In anderen Passagen wiederum, weht einem der Wind einer Demokratie-Nostalgie entgegen:
“Verstehen Sie dieses Buch als ungeschönte Aufzeichnung des Aufbruchs in eine neue Zeitrechnung. Wenn einst das digitale Gedächtnis kritischer Autoren gelöscht sein wird, gibt es hoffentlich irgendwo auf einem Speicher (Anmerkung des Rezensenten: gemeint ist hier der Hochboden – nicht der digitale Speicher) ein nicht verbranntes Exemplar von „Corona, Klima, Gendergaga“, das die Ungeheuerlichkeiten unserer Zeit für die Nachwelt zugänglich macht.“
Das Buch ist in mehr als fünfzig Kapitel gegliedert, die selten mehr als zwei-drei Seiten lang sind. Dadurch wird der Inhalt thematisch gut gegliedert (Inhaltsverzeichnis, PDF 98 KB). Die einzelnen Kapitel haben die Charakter von Artikeln, wie sie der Autor auch in seinem Blog „Liberale Warte“ verfasst. Der Bogen spannt von bürgerrechtlichen Überlegungen bis hin zu gesellschaftlich-philosophischer Kritik. Ich habe nur etwa 100 Seiten, des mehr als 180 Seiten starken Buches, durchgehend gelesen; den Rest nur quer und erratisch. Layout und Schrift sind lesefreundlich.
Im letzten Absatz schreibt der Autor:
„Was bleibt, ist die Hoffnung, die sanft Schlummernden mögen irgendwann erkennen, dass der jahrelange Selbstbetrug ihre Lage verschlimmert hat. Vielleicht können Regierungen dann Kritiker nicht mehr folgenlos niederknüppeln lassen. Vielleicht siegt tatsächlich die Demokratie. Vielleicht wird doch alles wieder gut. Ich zweifle. Sagen Sie mir, warum ich falsch liege. Ich bin müde.“
Ich denke, dass sich auf Sicht die Transformation zu einer neuen Weltordung, dem im Buch angesprochenen „Great Reset“, nicht aufhalten lässt. Die von Menschen selbst geschaffenen Fakten lassen unvermeidbare Zwangsläufigkeiten erkennen. Wie jedoch eine globale Gesellschaft mit einer Weltregierung aussehen wird, bleibt nach wie vor gestaltbar. Die Entscheidung darüber, wer diese Gestaltung übernimmt, sollten wir nicht „denen da oben“ überlassen.
Unsere Gesellschaft ist bereits in Lager gespalten: Einerseits eine dominierende Masse, die dem Mainstream folgt, andererseits kleine Minderheiten, die Gegenpositionen dazu aufbauen. Neben diesen beiden gibt es jedoch immer noch eine große Anzahl von Menschen, die sich weder hier noch dort wohlfühlen und alles hinterfragen, die kritisch denken und – in wenigen Fällen – auch so äußern. Für diese Menschen ist dieses Buch gemacht …
Wer frühere Bücher des Autors gelesen hat, wird bald feststellen, dass „Stumme Erde“ keine erheiternde Lektüre ist, sondern ein heftiger Weckruf. Während „Und sie fliegt doch“, einen munter erzählten Einblick in die faszinierende Welt der Hummel gibt, dominieren in dem vorliegenden Werk die düsteren Töne. Auch wenn Sie kein besonderes Interesse an Insekten haben und diese sogar als lästig oder unnütz empfinden, sind genau diese Tiere aus Sicht des Autors der Schlüssel zum Verständnis komplexer Prozesse in unserer Umwelt.
Er spannt den Bogen aber noch weiter und zeigt wie unterschiedliche Lebensformen – von Bakterien und Viren bis hin zu Säugetieren, wie dem Menschen – so eng miteinander verflochten sind, dass das Überleben der Menschheit davon abhängig ist. Bekanntermaßen kann die Erde ja ohne uns Menschen klarkommen, wir jedoch ohne Erde …?
STUMME ERDE Warum wir die Insekten retten müssen Dave Goulson, deutsch von Sabine Hübner Gebundene Ausgabe EUR 25,00 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2022 Zweite Edition, 14. März 2022 368 Seiten 15,3 x 3 x 21,8 cm ISBN 978-3446272675
Seit seinem achten Lebensjahr hat sich der promovierte Biologe mit Professur an der Universität von Sussex in Südengland – intensiv mit Insekten beschäftigt. Der seit Jahrzehnten zu beobachtende Rückgang der Artenvielfalt – nicht nur bei Insekten – hat ihn bereits lange beschäftigt. Kaum ein Anderer, als „Hummel-Papst“ Dave Goulson, ist berufen, diese komplexe Thematik für uns zu beleuchten und zu deuten.
Der Titel des Buches bezieht sich auf das bereits 1963 erschienene Buch „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson, in dem die amerikanische Autorin unseren Umgang mit der Umwelt anprangert. Wir befinden uns im Anthropozän (ja, auch ich hasse dieses Wort), dem Zeitalter, das vor zehntausend Jahren begann und durch das nachweisbare Wirken der Menschen auf unseren Planeten definiert wird.
Die fortschreitende Expansion der Zivilisation mit ihren materiellen Bedürfnissen bringt die bisherigen natürlichen Lebensvorgänge auf der Erde zunehmend aus dem Gleichgewicht. Nach einem Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Insekten, zeichnen die ersten Kapitel des Buches ein alarmierendes Bild des sich immer weiter beschleunigenden Artensterbens. Die qualitative und quantitative Abnahme der Biodiversität wird vom Autor detailliert erklärt, unterstützt von grafischen Darstellungen und den Ergebnissen fundamentaler Studien der vergangenen Jahrzehnte. Soweit möglich, zieht er daraus Schlüsse und klärt Ursachen und Zusammenhänge.
Im mittleren Teil des Buches wird die kämpferische Haltung des Autors sichtbar, indem er uns mitnimmt in die Vielzahl von juristischen und politischen Prozessen, an denen er als Advokat der Natur teilgenommen hat. Hier geht es um intensive Landwirtschaft, namentlich Pestizid, Düngemittel. Aber auch um die Abnahme der Biosphären, den Klimawandel und andere technologische und lebensfeindliche Entwicklungen, die wir zunehmend wahrnehmen.
Am Ende jeden Kapitels, gibt es dann doch ein etwas erheiterndes „Bonbon“. In dem aus seinen bisherigen Büchern gewohnten anekdotischen Stil, werden einzelne Insektenspezies mit besonders faszinierenden Eigenschaften vorgestellt.
Nach einer ziemlich dystopischen – jedoch sehr realistischen Vision – die der Autor aus der Ich- Perspektive eines Millennium-Geborenen erzählt, kann dann der letzte Teil des Buches mit einem Katalog von Maßnahmen aufwarten, wie jede Einzelne von uns in allen Bereichen unseres Lebens etwas dazu beitragen kann, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommt, wie in den düstersten Prognosen.
Zurückdrehen lässt sich die Entwicklung zwar nicht, jedoch wäre es möglich, dass die Uhr doch erst fünf vor Zwölf zeigt und wir heilsame Prozesse ingangsetzen können. Entscheidend dafür ist jedoch das Bewusstsein dafür in die Öffentlichkeit zu tragen, dass jetzt gehandelt werden muss.
Essayistisch und immer stilsicher, jedoch auf wissenschaftliche Korrektheit bedacht, gibt uns Dave Goulson einen Überblick davon, wie schlimm es um unsere Umwelt bestellt ist und auch warum wir mit diesen deprimierenden Fakten noch gar nicht umgehen können – oder wollen. Während seiner Vortragsreisen hat der Autor einen guten Eindruck davon bekommen, wie schwer es uns fällt, Komplexität in der Natur und deren Auswirkungen auf das eigene Leben zu verstehen.
Meine Rezension bezieht sich nicht auf das gebundene Buch, sondern das eBook. Die digitale Ausgabe ist gut lesbar und funktionell formatiert. Hier und da gibt es kleinere Schnitzer in der Textformatierung. Die Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Hübner – die bereits frühere Werke von Dave übersetzt hat – scheint inhaltlich und formal richtig zu sein. Die englische Originalausgabe liegt mir nicht vor.
„Stumme Erde“ ist vielleicht nicht das beste Buch, das ich je gelesen habe, wohl aber eines der wichtigsten. Die Lektüre ist nur der Anfang; die Umsetzung der gewonnenen Einblicke und Anregungen wartet auf uns alle. Weitersagen!
Diese Frage kann einem dort gestellt werden, wo man üblicherweise nicht zuhause ist. In der Fremde, von Fremden. Es ist nur eine von vielen Fragen nach Identität: Was machst du? Was bist du von Beruf? Wie bist du politisch orientiert? Welches Sternzeichen hast du? Welcher Religion gehörst du an? Bist du weiblich oder männlich oder dazwischen? Aber vor allem: Wo kommst du wirklich her? Die Fragen nach Herkunft, Rasse und Zugehörigkeit.
Diese Fragen werden in dem fulminanten Roman IDENTITTI von Mithu Melanie Sanyal in einer atemberaubenden und mitunter grotesken Geschichte aus allen Sichtwinkeln gestellt, beleuchtet und teilweise auch beantwortet. Die Autorin bewegt sich wortgewandt, oft ironisch humorvoll und mit intuitiver Treffsicherheit in den Debatten rund um Rassismus, Kolonialismus, Identitätspolitik und weiße Vorherrschaft.
„Das Post in Postkolonialismus bezieht sich auf die Konsequenzen aus dem Kolonialismus, nicht auf das Ende des Kolonialismus“
IDENTITTI Mithu M. Sanyal Roman Gebundene Ausgabe EUR 22,00 ePub EUR 16,99 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2021 Zweite Edition, 15. Februar 2021 432 Seiten 13,8 x 3,4 x 20,8 cm ISBN 978-3-446-26921-7
Ich werde nicht auf die Handlung eingehen; das haben viele Andere vor mir schon besser dargestellt (siehe Rezensionslinks unten). Eher versuche ich, zu beschreiben, wie die Lektüre auf mich gewirkt hat und wie sie mich weiter beschäftigt. Schon bei der Vorstellung im Deutschlandfunk war ich wie elektrisiert, habe mir das Buch sofort besorgt und als ePub gelesen; auch das Lesen am Bildschirm für mich eine neue Erfahrung.
Mit 60+ gehöre ich sicherlich nicht zur Hauptleserschaft und hatte bei der Lektüre der Geschichte die in einem internationalen studentischen Mikrokosmos spielt, ein gewisses voyeuristisches Gefühl. Aber da ich biologischer Vater von zwei heranwachsenden Söhne bin, deren Mutter aus Asien kommt, hatte ich gedacht, mich mit mixed-races ein wenig auszukennen. Die Lektüre des Buches allerdings hat mich geradezu überwältigt …
„Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächerte sich die Wirklichkeit in so viele Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für sie gab.“
Dieses ist nur eines von gefühlt Hunderten von Zitaten, von denen ich viele gelb markiert oder auch kopiert habe, weil sie so viele Aspekte von Wahrheiten beinhalten. Das Buch ist für mich Roman und essayistisches Sachbuch in Einem, „genreübergriffig“ im besten Sinne. Zwar gibt es keine Fußnoten, im Anhang jedoch detaillierte Quellennachweise für Zitate und weiterführende Literatur.
Unkonventionell und mit verblüffender Leichtigkeit jongliert die Autorin mit Sprache: Gedankenströme ohne Punkt und Komma, gewürzt mitcodierten Begriffen, Neologismen, durchgekoppelten Wortwürmern und Neuschöpfungen sprudeln nur so aus der Erzählerin heraus. Selbst in den depressivsten Stimmungen der Protagonistin leuchtet zwischen den Zeilen ein heiter optimitischer Hoffnungsschimmer. Man ahnt, dass am Ende alles gut wird.
„Vanessa sprach »Oma« »Omma« aus und »Mutter« »Mmuhtter«, deshalb hatte sich Nivedita ihr auf der Party — trotz Altbauwohnung mit ballsaalähnlichem Ausmaß und viel mehr Käsesorten auf dem Beistelltisch, als Nivedita benennen konnte — in einem Wir-Töchter-Essens-gegen-den-Rest-der-Welt-Reflex verbunden gefühlt, bis Vanessa ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Simon und dessen Erfahrungen mit der Dreifaltigkeit konzentrierte.“
Nach einem Drittel der Lektüre wurde ich der vielen Dialoge und Diskussionen etwas müde, die sich in den komplizierten Beziehungen zwischen den Protagonistinnen ergaben. Stimmt: Männer kommen in dem Buch nur gelegentlich zu Wort! Soviel empfindsame Gefühligkeit war ich einfach nicht gewohnt. Den Widerstand zu überwinden hat sich jedoch gelohnt, denn die Lektüre ist immer gehaltvoll, unterhaltsam mit manch gutem plot twist.
„Sie schafft, dass es leicht wirkt, über Rassismus zu lachen — und dass alle natürlich mitlachen, weil Rassismus so absurd ist.“
Erst mein Sohn machte mich darauf aufmerksam, dass es biologisch gesehen gar keine menschlichen Rassen gibt, sondern dass Rassen nur ein soziales Konstrukt sind, ein Herrschaftsinstrument. Den meisten von uns ist nicht klar, welche gesellschaflichen Mechanismen bestimmte Gruppen ausgrenzen, trotz oft auch wegen der üblichen politischen Korrektheit.
Dieses Buch ist ein unglaublich positiver Augenöffner. Damit es noch mehr Menschen erreicht, würde ich mir den Stoff auf der Bühne inszeniert wünschen oder auch als verfilmte Miniserie. Der leise und versöhnliche Schlussakkord macht uns glauben, dass das urmenschliche Interesse aneinander, Anteilnahme und Empathie am Ende den Sieg erringen.
„Die Dinge und ebenso wir Menschen können das eine sein, ohne dadurch die Fähigkeit zu verlieren, auch etwas anderes zu sein.“
Die Autorin war mir eine riesige Hilfe die unterschiedlichen Aspekte von Identität zu verstehen und einzuordnen. Ich fühle mich reich beschenkt. Dank dieses Romans ist die Welt noch liebenswerter und transparenter geworden und obwohl ich mich schon immer ein wenig trans-race gefühlt habe, weiß ich endlich wie man das nennt!
„It’s not the meek that will inherit the earth, it’s the mixed that will inherit the earth.“
Eigentlich bin ich kein SF-Leser; dieses Buch hat mich jedoch vom ersten Moment an in seinen Bann geschlagen. Gerade von einem längeren China-Aufenthalt zurück, erfuhr ich von einem Bekannten am Telefon, dass er sich, einer Empfehlung der Süddeutschen Zeitung folgend, das Buch „Die drei Sonnen“ geholt und in einem Zug durchgelesen hätte. Und, obwohl auch er normalerweise kein Science Fiction liest, so fasziniert davon war, dass er sich gleich den zweiten Band der Trilogie auf englisch geholt hat, da die deutsche Fassung erst im Juni 2018 erscheinen soll. Noch bevor ich den Titel selbst in Händen hielt, erzählte mir ein guter Freund am nächsten Morgen beim Frühstück, dass er gerade einen tollen SF-Roman liest: „Die drei Sonnen“!
Die drei Sonnen: Roman von Cixin Liu aus dem Chinesischen von Martina Hasse broschiert, 592 Seiten Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (12. Dezember 2016) ISBN-10: 3453317165 ISBN-13: 978-3453317161 Originaltitel: The Three Body Problem Trilogy Book 1 – Sanbuqu Santi 13,4 x 5 x 20,5 cm EUR 14,99
Am Tag darauf Familientreffen. Ich frage meinen Bruder, der bei uns in der Familie der SF- und Phantasie-Spezialist ist… Er hatte das Buch selbstverständlich bereits gelesen. Ich konnte kaum noch erwarten, mit der Lektüre zu beginnen. Ein befreundeter chinesischer Physiker, dem ich gleich begeistert von dem Buch erzählte, hatte auch noch nie von Cixin Liu gehört, wusste aber nach kurzer Internetrecherche zu berichten, dass Präsident Obama das Buch als Urlaubslektüre gelesen und auch Marc Zuckerberg es in höchsten Tönen lobte. Auch Denis Scheck hat das Buch bereits besprochen und es als besten SF-Titel der letzten 30 Jahre bezeichnet.
Warum erzähl ich das Ganze? Weil bei mir, wie auch bei Ihnen vielleicht, die Sychronizitäten um eine Geschichte herum, eine bedeutende Rolle spielen. Ich lese eigentlich nur Bücher, die mich förmlich anspringen. Kollegen von mir haben in Länge und Breite die Hardfacts zu diesem Buch abgehandelt; ich möchte mich auf eher persönliche Eindrücke beschränken. Nicht ganz klar ist mir, warum diese Geschichte, die bereits 2006 in einem chinesischen SF-Magazin erschien, erst zehn Jahre später auf englisch und jetzt auf deutsch erscheint. Da wird in den kommenden Jahren wohl noch der eine oder andere literarische Schatz aus Fernost bei uns im Westen auftauchen … siehe Literaturnobelpreis.
Die einzigen SF-Romane, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe, sind „Limit“ von Frank Schätzing und „Amalthea“ von Neil Stephenson. Ähnlich wie „Die drei Sonnen“ sind diese Bücher sehr umfangreich, technogen und drehen sich um die zukünftige Existenz der Menschheit außerhalb unseres Heimatplaneten. Das vorliegende Buch geht in seinen Spekulationen allerdings viel weiter und bezieht die Gesamtheit unseres Handelns auf allen Ebenen ein. Nicht nur erstaunlich die gesellschaftspolitische Rückschau, sondern auch die konsequente Auseinandersetzung mit Astro- und Teilchenphysik in den Grenzbereichen zur Philosophie. Der Autor faltet für uns spielerisch das ganze Universum auch jenseits der Raum-Zeit auseinander. Man hat das Gefühl, durch das ganze Weltall zu blicken und nichts ist, wie wir es zu kennen meinen. Die zwölf Dimensionen von Burkhard Heim scheinen sichtbar zu werden.
Es geht in dem Buch um Spionage, Cyberkrieg, Computerspiele, VR und AR sowie Computer im – aber auch – aus(!) Menschen. Wir bekommen tiefe Einblicke in die chinesische Kultur und die jüngste chinesische Vergangenheit, die ein Großteil der Bevölkerung barfuß und hungernd erlebte. Humanistische Ideale und Umweltbewusstsein hinterfragen den Stellenwert von Wachstum und Wissenschaft – und damit die menschlichen Existenz: Pfeifen im Walde? Es geht ums Ganze, um einen extraterrestrischen Verrat an der Menschheit: Rettung oder Vernichtung? Dabei schafft es Cixin Liu mehrere zeitlich und räumlich scheinbar unabhängige Erzählstränge so zu verweben, dass fast magische Sphären entstehen, in denen alles möglich scheint.
Hier eine typische Passage: „Er erinnerte sich an ein Informatik-Seminar, dass er in seinem dritten Studienjahr besucht hatte. Der Professor hatte zwei große Bilder an die Wand gehängt. Das eine war die Qingming-Rolle, ein berühmtes und äußerst detailreiches Bild auf einer Querrolle aus der Song-Dynastie. Das andere ein Foto, das den nur blauen Himmel mit einem kleinen, kaum wahrnehmbaren Wolkenstreifen zeigte. Der Professor fragte sie, welches der beiden Bilder mehr Informationen enthalte. Es stellte sich heraus, dass der Informationsgehalt des Fotos den der Querrolle um ein bis zwei Größenordnungen übertraf. Sie zeigte reine Entropie. Mit dem Spiel „Three Body“ verhielt es sich genauso. Ein Großteil seiner Informationen war an der Oberfläche nicht erkennbar. Wang Miao konnte es fühlen, aber nicht klar ausdrücken. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Macher von „Three Body“ genau den umgekehrten Weg gegangen waren wie die Entwickler von anderen Spielen. Im allgemeinen ist ein Spieleentwickler darauf bedacht, die Menge an sichtbaren Informationen zu maximieren, damit sein Game möglichst realistisch wirkt. Die Entwickler von „Three Body“ dagegen hatten die sichtbaren Informationen an der Oberfläche nach Kräften reduziert, um die zu Grunde liegende komplexe Realität des Spiels zu verschleiern. So wie auf dieser Fotografie eines scheinbar leeren Himmels.“
Sprachlich ist der Roman eher einfach gehalten; kurze Sätze denen oft eine seltsame Poesie innewohnt. „Er ging zwischen den Kindern hindurch zu der Tür, auf die Ye Wenjie gedeutet hatte. Bevor er eintrat, blieb er stehen. Ein seltsames Gefühl hatte ihn ergriffen. Als befände er sich in einem Traum aus deiner Jugendzeit. Aus den Tiefen seiner Erinnerung tauchte eine prickelnde Empfindung auf – traurig, glitzernd wie Tauperlen am frühen Morgen, und zart rosa.“
Der Roman wird ergänzt durch einen Anhang mit Anmerkungen zu bestimmten Begrifflichkeiten und ein Nachwort des Autors, in dem er sehr authentisch schildert, wie das Buch entstanden ist und welche persönlichen Lebenserfahrungen eingeflossen sind. Ein besonderes Kompliment an Martina Hasse, der mit ihrem Übersetzungs-Marathon die Übertragung einer unglaublich schwierigen und komplexen Materie zu einer farbigen und schlüssigen Geschichte gelungen ist. Gerade wenn man bedenkt, dass es nicht nur darum geht, die Besonderheiten der chinesischen Kultur, sondern auch astro- und quantenphysikalische und philosophische Darstellungen verständlich ‘rüberzubringen. Chapeau!
Die Schrift ist sehr gut lesbar, die Bindung für ein Taschenbuch ganz exzellent. Fast 600 Seiten für schlappe EUR 14,99. Für dieses Buch hätte ich glatt das Dreifache gezahlt und freue mich schon auf die Fortsetzung der Trilogie: „Der Dunkle Wald“. Im Englischen ist der Titel unter dem Namen „The Dark Forrest“ bereits erschienen.