DREAMBOOK

Buchbesprechungen – keine Verrisse …

Das glückliche Geheimnis

Literarisch containern

Arno Geiger nimmt uns mit bei der Betrachtung von drei Jahrzehnten seines Doppellebens als Autor und Altpapierarchivar. Das Buch ist ein harmonischer Wechsel von reduzierter Schilderung und essayistischer Kontemplation, gelungenen Selbstzuschreibungen und uneitler Selbstergriffenheit. Es ist keine seichte Beichte, sondern ein Tagebuch der enthusiastischen Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Die dabei eher beiläufig wirkende sprachliche Kunst ist die herausragende Stärke des Autors.

Denn in den Müll kommt, was erledigt ist, und in diesem Erledigten gibt eine Gesellschaft Auskunft über sich selbst. Für Archäologen sind ehemalige Stadtgräben, die mit Abfall aufgefüllt wurden, Goldadern. Die Archäologen wissen: Das Erledigte verkörpert eine Epoche so gut wie das bedeutendste Kunstwerk. Im Müll wohnt die Wahrheit. Und die Wahrheit muss irgendwann heraus: Das Leben besteht aus Unordnung, Verwirrung, Dreck und Tod. Wie ein wüst hingeschütteter Misthaufen ist die schönste, vollkommenste Welt.So kam es, dass ich vom guten Weg abwich und aufs Geratewohl losmarschierte auf ein Terrain, das gekennzeichnet ist von Schmutz und fehlender Schicklichkeit. Ich geriet in etwas hinein, das sich zunächst als Irrsinn erwies und später als eine gute Sache.

Das glückliche Geheimnis
von Arno Geiger
Carl Hanser Verlag, 2023
Gebunden, 240 Seiten
ISBN 978-3446276178
13,5 x 2,3 x 20,8 cm
EUR 25,-
eBook EUR 18,99

Das Buch hat mir richtig viel Lese- und Lebenslust gegeben. Die freudige Erregung des Protagonisten über seine geheimen Funde in den Altpapiercontainern Wiens und die Freude über das Teilen dieser Schätze mit uns, springt auf jeder Seite über. Ähnliche Gefühle hat bei mir nur der Text von Hermann Hesse „Über das Glück“ hervorgerufen. Auch in den Texten Geigers liegt etwas Verheißungsvolles. Das Glück kommt aus dem Moment und verbleibt auch dort.

„Es war beglückend, nach einer zur Gänze absolvierten Runde mit K. Kaffee zu trinken, ihr das Gefundene zu zeigen und darüber zu reden. Später hielt ich einen Mittagsschlaf, abgeschieden von der Welt. Ich legte mich aufs Bett mit einem zufälligen, am Vormittag gefundenen Buch. Ich las in diesen Büchern anders als in gekauften Büchern, in freudiger Erregung, als falle mir etwas vom Himmel in die Schürze. Irgendwann nickte ich ein und schlief so fest, dass ich nichts mehr hörte vom Rumoren der Stadt.“

Das glückliche Geheimnis geht weit über das „literarische Containern“ hinaus. Wir werden mitgenommen durch die Irrungen und Wirrungen eines Literatenlebens mit all seinen Höhen und Tiefen. Über die Grenzen des Erwartbaren hinaus, lässt uns Arno Geiger an Erfolgen und Mißerfolgen seines beruflichen und privaten Lebens teilhaben. Es geht um die Kunst des Aufbewahrens und Entsorgens, des Einordnens und Neubewertens, um Retrospektion und Vergänglichkeit. Es ist ein Buch über das Altern und die Weisheit, über die Selbstbegegnung und das Staunen, über die Lebensfülle und das Auswählen.

„Ich begriff, dass das echte Leben gewöhnlich ist und trotzdem vielschichtig und dass auch ein vielschichtiger Satz gelassen formuliert sein kann. Es stellt erstaunlich hohe Ansprüche, einen schlüssigen Gedanken zu for mulieren, der nicht in jeder Sekunde signalisieren will, wie bedeutend er ist. Das am wenigsten wichtige Stück des hochkulturellen Ballasts, mit dem ich mich bisher getragen hatte, warf ich schrittweise ab: das sprachliche Auftrumpfen. Ich nahm mir vor, ein Künstler des Ungekünstelten zu werden.“

Ein Geheimnis dieses Textes ist die Vielschichtigkeit der Einsichten, von denen keine nur privat daherkommt, sondern alle in einem Großen Ganzen gesehen werden. Neben Bezügen zu Sören Kierkegaard, Arno Schmidt und Marcel Proust haben mich besonders die Ausführungen über die auch von mir hochverehrte Agnès Varda („Schutzheilige der Abfallsammler“) und Greta Thunberg berührt. Ein gutes Buch ist zwar nicht vordergründig, jedoch auch immer – politisch.

„Der Film [Die Sammler und die Sammlerin] ist eine Spurensuche, wie tief das Herumstreifen und Sammeln in die Natur des Menschen eingeschrieben ist, ein Nachdenken über das Sammeln als Kulturtechnik, als menschliches Grundbedürfnis, egal ob aus Not oder Neigung. Meist findet es am Rand der Wohlstandsgesellschaft statt, am Rand der Hauptrouten industrieller Verwertung. Immer fällt irgendwo etwas ab, ein Rest, um den es schade wäre, wenn er verlottern, verrotten oder verschrottet würde. Agnès Varda teilte mir mit, es finde sich auch im Wertlosen ein Reichtum, wenn man nur willens ist, ihn zu suchen.“

„Ganz nebenbei gesagt, mir gefällt Greta Thunberg, diese meistens ernst, geradezu finster dreinblickende Person mit ihren dünnen Zöpfen. Greta Thunberg ist als Verletzliche kenntlich, und es hat für mich etwas Überzeugendes, dass eine verletzliche Person für Verletzliches eintritt, nicht bittend, sondern anklagend. Greta Thunberg personifiziert ihr Anliegen. Ich stehe auf ihrer Seite.“

Vor zwei Wochen habe ich zu lesen begonnen. Normalerweise brauche ich für ein zu besprechendes Buch ein Wochenende. Hier habe ich das Ende der Lektüre so lang es geht hinausgezögert. Ich wollte einfach nicht, dass das Buch endet; so intensiv hat es mich über weite Passagen in Beschlag genommen. Mehr als einhundert Notizen habe ich angefertigt und fast ein Fünftel des Buches für Zitate kopiert.

„Darf er das überhaupt? Diese Frage wird stehenbleiben, weil Einigkeit nicht erzielt werden kann, das weiß ich. Mich haben immer die Grauzonen angezogen, in den Grauzonen verbirgt sich das eigentlich Menschliche. In der Grauzone fordert der Mensch die Gesellschaft heraus, und in diesem Spannungsfeld entwickeln sich beide.“

Das eBook hatte ich mir auf mein kleines iPhone kopiert, was in allen Lebenslagen einen intimen Zugang zum Stoff möglich macht. Neue Literatur lese ich meist so, ältere Bücher eher auf Papier, aus dem Antiquariat. Ich halte das für ressourcenschonend und eBooks landen zumindest nicht im Altpapier.

Das glückliche Geheimnis beim Carl Hanser Verlag
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/das-glueckliche-geheimnis/978-3-446-27617-8/

Rezensionen des Buches
https://www.perlentaucher.de/buch/arno-geiger/das-glueckliche-geheimnis.html

Leseprobe
https://www.vorablesen.de/buecher/das-glueckliche-geheimnis

Arno Geiger bei NDR Kultur (Video und Audio)
https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Das-glueckliche-Geheimnis-Arno-Geigers-Roman-vom-Suchen-und-Finden,geiger186.html

Das Hörbuch, gelesen von Matthias Brandt
https://www.lesejury.de/arno-geiger/hoerbuecher/das-glueckliche-geheimnis/9783957132963

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