DREAMBOOK

Buchbesprechungen – keine Verrisse …

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Latent lesesüchtig

Fast alles habe ich von diesem begnadeten Meister des fantastischen Realismus gelesen; das meiste auf Deutsch, einiges auf Englisch, noch nichts auf Japanisch. Dieser neue Roman hat mich wieder in die Stimmung versetzt, die ich seit der Lektüre von „Kafka am Strand“ so gut kenne und die so schwer zu beschreiben ist.

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Roman von Haruki Murakami
vom Japanischen übersetzt
ins Deutsche von Ursula Gräfe
DuMont Buchverlag, Köln 2024
Gebunden, 640 Seiten
ISBN 978-3832168391
14,4 x 4,7 x 21,2 cm
EUR 34,-
eBook EUR 27,99

Ich kenne das Licht dort, die Gerüche, den Geschmack, die Menschen. Es löst eine fast kindliche Sehnsucht in mir aus: die Sehnsucht, nicht im Hier und Jetzt verhaftet zu sein, sondern sich mit dem Bewusstsein frei bewegen zu können. Die Worte reihen sich wie von selbst aneinander, als würden die Worte beim Lesen aus mir selbst entstehen. Dadurch entsteht eine magische Atmosphäre.

„Es sieht aus, als würden wieder Tränen über deine Wangen laufen. Es riecht ein bisschen nach Tränen. Tränen haben tatsächlich einen Geruch, denke ich. Er geht zu Herzen. Er ist sanft, verführerisch und natürlich auch ein bisschen traurig.“

Traum und Wirklichkeit verschmelzen zu einem Handlungsstrang. Ein sechzehnjähriges Mädchen und ein siebzehnjähriger Junge verlieben sich ineinander, verlieren sich und finden sich in unterschiedlichen Realitätsebenen ihrer Seelenverwandtschaft. Wiederkehrende Bilder, Symbole, Rätselhaftes sind die Stilmittel mit denen der Autor uns erzählend verzaubert.

„Ich sauge die Abendluft tief ein, während ich nach den richtigen Worten suche. Wie drücke ich es am besten aus? »Die Menschen dort leben alle mit ihren Schatten zusammen.«“

Das Buch spielt in Japan, ohne das Japan genannt werden müsste. Die Beschreibungen beschränken sich auf das Wesentliche, der Fokus ist jederzeit klar. Genaueste Beoachtungen in Verbindung mit Metaphern, einfacher Sprache, wenig Fremdwörtern. Und über Allem liegt der Schleier eines großen unbestimmten und daher unaussprechlichen Geheimnisses.

„Den Blick auf die Welt, der sich mir damals offenbarte, sollte kein Mensch je zu sehen bekommen. Aber jeder von uns trägt diese Welt in sich. Ich trage sie in mir, Sie tragen sie in sich. Dennoch ist ihr Anblick nicht für menschliche Augen bestimmt. Deshalb verbringen wir die meiste Zeit unseres Lebens mit geschlossenen Augen.“

Murakami hat dieses große Werk bereits vor 40 Jahren in einer Kurzgeschichte angedacht, jedoch erst im Laufe der letzten vier Jahre zur Reife gebracht. Der Roman ist lang – ohne langatmig zu sein, denn die Kapitel haben eine optimale Länge und können jedes für sich genossen werden. Nach etwa einem Drittel des Buches, erwartet uns am Ende von Kapitel 23, ein unerwarteter plot twist.

Am liebsten würde ich gar nicht aufhören zu lesen. Glücklicherweise habe ich noch 472 Seiten ungelesen vor mir liegen.

„Am Nachmittag begann es zu schneien. Unzählige weiße Flocken fielen lautlos vom Himmel auf die Stadt. …“

DuMont Buchverlag

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