DREAMBOOK

Buchbesprechungen – keine Verrisse …

Die Zeit der Verluste

Trauerarbeit lernen

Daniel Schreiber, derzeit wohl bester Essayist Deutschlands, hat mit diesem Buch noch ein sensibles und gesellschaftlich sehr relevantes autobiografisches Essay abgeliefert, das sich an seine beiden vorherigen Bücher „Allein“ und „Nüchtern“ anschließt – die ich allerdings wahrscheinlich sogar mit der gleichen Begeisterung noch lesen werde.

Die Zeit der Verluste
von Daniel Schreiber
Hanser Berlin, 2023
Gebunden, 144 Seiten
ISBN 978-3446278004
13,3 x 1,8 x 20,8 cm
EUR 22,-
Kindle EUR 16,99
Hörbuch EUR 10,-

Er beschreibt in dem Buch einige Tage intensiver innerer Einkehr, die er sich nach mehr als einem Jahr pausenloser Geschäftigkeit gönnen muss, um nicht vor die Hunde zu gehen. Die immer wieder verdrängte Trauer, um den Tod seines Vaters holt ihn hier und jetzt ein und bringt ihn dazu, Verlust und Trauer – eher noch die Unfähigkeit zur Trauer – im Spiegel der Gesellschaft zu reflektieren.

„Manchmal bin ich mir nicht sicher, um wen oder um was ich trauere, ob ich das vermeintlich Kleine und das vermeintlich Große, meinen privaten Alltag und die Weltgeschichte, noch trennen kann.“

Dabei entlarvt er die teils zynischen Bilder und Rituale, die wir um das Sterben, den Tod, den Verlust und die Trauer gewoben haben, um uns nicht wirklich im aktiven Leben und Streben damit auseinandersetzen zu müssen. Wir lernen Facetten der Trauerabwehr kennen, die Süchte, die uns helfen, unsere Ohnmacht gegenüber dem Unvermeidlichen auszublenden, zu betäuben.

„In Büchern, Artikeln und den Fernsehnachrichten wurde so anhaltend über eine Zeitenwende und manchmal sogar eine Apokalypse gesprochen, dass ich eine Abneigung gegen diese Worte entwickelte, gegen ihre Hülsenhaftigkeit, die mehr verdeckte als beschrieb.“

Venedig im Nebel als Handlungsort seiner Selbst- und Weltbetrachtung ist perfekt gewählt: „dieses skrupulös bewahrte Museum seiner selbst“. Eine Ode an die Stadt und ihre vergängliche Schönheit. „Es ist ein Ort, der mit unseren inneren Aggregatzuständen spielt, der uns bewusst machen kann, dass alles, von dem man glaubt, es sei solide, fest und beständig, in hohem Grad fluide, dass alles vergänglich ist.“

Seine Freundin bemerkt, „dass ihr diese Stadt manchmal wie ein alter, sterbender Körper vorkomme, den man schmücke und balsamiere wie für eine festliche Beisetzung. …“ „Möglicherweise gehört es einfach zum Wesen der Stadt, dass sie einen dazu zwingt, die Kontrolle abzugeben und zuzulassen, dass man sich selbst immer mal wieder abhandenkommt.“

Wir erfahren etwas über die Kindheitserinnerungen des Autors, beleuchten kulturelle Phänomene wie Trauerlärm und Trauerschweigen, lernen die Bedeutung von ontologischer Verletzlichkeit und Subapokalypsen für unser Verständnis von Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsperspektive.

„Zeit der Verluste: mit dem Schmerz der Trauer leben zu lernen und durch ihn ins Eigentliche unseres Lebens zurückzufinden.“

Der erzählerische Wechsel zwischen Reisetagebuch, Selbstbeobachtung und philosophischer Weltschau geschieht mit genialer Leichtigkeit. Das Buch mit seinen 150 Seiten hat – obwohl es leicht lesbar ist – eine schier unglaubliche Erkenntnisdichte, mit nur wenigen Längen. Für mich mehr als ein literarischer Silberstreif am Horizont in diesem grauen Novemberwetter.

Hanser Literaturverlage
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-zeit-der-verluste/978-3-446-27800-4/

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