DREAMBOOK

Buchbesprechungen – keine Verrisse …

Nachruf auf mich selbst.

Am Ende wird alles gut.

Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende. Harald Welzers bisher emotionalstes, sympathischstes und wichtigstes Buch in dem man viel von seiner Biografie erfährt. Auch ist es ein Rundumschlag, der das Leben, wie wir es kennen komplett in Frage stellt. Ein halbes Jahr vor dem Ukraine-Krieg erschienen, spiegelt sich darin bereits dieses Ereignis. Denn es geht um Endlichkeit, es geht um den Tod und das Ende. Unsere Gesellschaft hat unendliche Probleme, damit aufzuhören, immer wieder die gleichen Rezepte zu empfehlen.

„Aufhören ist als Kulturtechnik stark unterbewertet“

Nachruf auf mich selbst.
Die Kultur des Aufhörens
von Harald Welzer
S. FISCHER Verlag, 2021
Gebunden, 288 Seiten
ISBN 978-3103971033
13,6 x 2,65 x 21 cm
EUR 22,-

Im Herbst 2016 war ich bei einem Projekt in Peking im Rahmen einer Recherche auf die mir unbekannte Designdisziplin „Transformationsdesign“ gestoßen, deren Protagonist Prof. Harald Welzer an der Universität von Flensburg lehrt. Zurück in Hamburg suchte ich weiter und fand einige interessante Publikationen, auch „Transformationsdesign“, die mich in einige Anspekten stark ansprachen.

„Im Großen und Ganzen ist Transformationsdesign ein menschzentrierter, interdisziplinärer Prozess, der darauf abzielt, wünschenswerte und nachhaltige Verhaltens- und Formänderungen von Individuen, Systemen und Organisationen zu bewirken. Es ist ein mehrstufiger, iterativer Prozess zur Anwendung von Designprinzipien auf große und komplexe Systeme.“

Wikipedia (aus dem Englischen übersetzt)

Dann bekam ich Weihnachten 2019 von einem Freund das Buch „Alles könnte anders sein“ von Harald Welzer geschenkt. Der Freund hatte mir folgende Widmung in das Buch geschrieben: „Damit alles wird wie es bleibt“; ein Satz auf dem man eine Weile herumkauen kann. Wenige Tage später hatte ich Gelegenheit, den Autor des Buches auf einer Veranstaltung in Hamburg selbst kennen zu lernen und mir mein Exemplar signieren zu lassen. Dann kam Corona …

Ein Freund zeigte mir im Frühjahr 2022 das SPIEGEL-Interview mit Harald Welzer; über sein neues Buch „Nachruf auf mich selbst.“ Der Punkt hinter diesem Titel, der kein vollständiger Satz ist, soll wahrscheinlich andeuten, dass es keine weiteren Nachrufe geben wird!? An mir war komplett vorbei gegangen, dass der Autor im April 2020, gleich im ersten Lockdown, einen schweren Herzinfarkt erlitten hatte.

Mein Freund lehnt Welzer komplett ab, er sei ihm zu elitär, zu abgehoben und arrogant. Ich hingegen bewundere ihn genau wegen dieser eleganten Arroganz, weil er mit dem was er und wie er es sagt, absolut auf dem rechten Weg ist. Ich wollte das neue Buch unbedingt lesen und bestellte mir ein gebrauchtes Exemplar. Was ich sonst nicht mache: Ich begann mitten im Buch zu lesen und zu blättern …

Dann begann ich mit dem Kapitel: „Nachruf auf mein zu lebendes Leben“ das konkret das Nahetod-Erlebnis des Herzinfarkts behandelt und alles was sich daraus ergab. Welzer beschreibt seine Erfahrung so plastisch, gleichzeitig distanziert und mit solcher Selbstverständlichkeit, als wenn es nicht um ihn selbst ginge, sondern um eine dritte Person.

Das Buch handelt von der Endlichkeit, mit der wir alle früher oder später konfrontieret sein werden und auf die wir durch unsere Sozialisierung gar nicht bis ungenügend vorbereitet sind. Daher der Untertitel „Die Kultur des Aufhörens“. Es ist voller spannender paradoxal klingender Titel und Sätze, die die Neugier wecken.

Sehr schön ist im zweiten Kapitel eine Reihe von biografischen Portraits von Personen, die der Autor bewundert, für ihre Fähigkeiten die eigene Biografie bewusst zu hinterfragen, aufzuhören und etwas ganz anderes Neues zu beginnen oder mit ihrem Lebenswerk auf etwas Wesentliches zu beschränken. Im drittel Kapitel hat der Autor 15 Wünsche aufgeschrieben, die mit dem Satz beginnen: „Ich möchte, dass auf meinem Grabstein steht: …“ Das vierte Kapitel besteht aus wertvollen Merksätzen, Anmerkungen und Danksagungen.

Die vielen Unterkapitel sind wie Stationen einer Reise durch unterschiedliche kulturelle und philosophische Aspekte, wie wir das Leben und den Tod sehen, erleben und verstehen lernen können. Der Text ist somit viel persönlicher und weniger politisch als seine Vorgänger, von tiefem Erleben und Erkennen geprägt. Ein Satz hat mich besonders beeindruckt: „Was aufhören muss, ist voher wichtig.“ In ihm steckt die Weisheit eines Zen-Meisters.

Mein Vater hat immer gesagt, dass man eine Party dann verlassen sollte, wenn sie am Schönsten ist. Nur unsere Gesellschaft des „höher, schneller, weiter“ kennt keine Grenzen und kein maß. Sie versucht das erlebte Gute und extrem Gute immer noch weiter zu steigern und zu toppen. Das funktioniert auf Dauer jedoch nicht, weder für den Einzelnen, noch für die Gemeinschaft.

Welzer ruft nie zu Verzicht auf, sondern zu Mäßigung und grundsätzlichem Hinterfragen, ob das was wir machen, überhaupt einen Sinn ergibt, oder ob man es ganz anders – lebenswerter – machen könnte.

„Soweit ich sehe, gibt es auch keine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Endlichkeit menschlicher Bemühungen befasst. Zwar gibt es Regalmeter apokalyptischer Schriften, nicht nur aus der esoterischen Abteilung, sondern vor allem aus der öko- und klimatologischen, aber die enden dann alle nicht mit einem »Lasst fahren dahin«, sondern mit dem unvermeidlichen »Es ist noch nicht zu spät.« Und dann folgen ebenso unvermeidlich »die gemütlichen kleinen Gesten des Fahrradfahrens, Energiesparlampen-Benutzens, Kurzduschens und Elektrogeräte-Reparierens«, wie Eva Horn angemessen wütend formuliert. Das Ende und die Endlichkeit kommen nur unwissenschaftlich vor, in der Lebenserfahrung, in der Literatur oder in der Kunst. Und, natürlich, in der Religion und damit in der Apokalypse. In der wissenschaftlich-technischen Welt gibt es dafür keinen Platz, was ungünstig für den Fall ist, in dem man es tatsächlich mit einem Endlichkeitsproblem zu tun hat.“

Seite 24

Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und blättere noch häufig darin. In der Zwischenzeit habe ich es vielen Menschen empfohlen und geliehen. Daher musste ein zweites gebrauchtes Exemplar her, das ich heute am Ostermontag einem guten Freund vorbeibringen werde. Denn es ist vielleicht das wichtigste Buch des vergangenen Jahres und die darin enthaltenen Botschaften müssen unter die Menschen kommen …

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