DREAMBOOK

Buchbesprechungen – keine Verrisse …

Melancolia

Zaubrische Tagträume

Wir blicken in die phantastisch poetischen Innenwelten eines 15-jährigen Jungen, der im sowjetsozialistischen Bukarest aufwächst und die Geheimnisse und Wahrnehmungen seiner Existenz auf magisch realistische Weise beschreibt. Ein außergewöhnlicher Coming-of-Age-Roman, der einen mit seinen wortgewaltigen Arabesken und hypnotischen Bildern geradezu verschlingt. Etwas Vergleichbares habe ich noch nie gelesen. Die phantastischen Paralleluniversen eines García Márquez oder Murakami wirken dagegen fast harmlos. Der Dichter schreibt so, wie ich schreiben würde, wenn ich es könnte.

Melancolia
Erzählungen
von Mircea Cărtărescu
aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Cover-Illustration von Daniel Wimmer
Zsolnay Verlag, 2022
Gebunden, 272 Seiten
ISBN 978-3552073050
13,4 x 3 x 20,8 cm
EUR 25,- eBook EUR 18,99

Angesprungen hat mich das Werk wegen des grafischen Titels „Melancolia“ und der Cover-Illustration, einem Gemälde von Daniel Wimmer, das einen Jungen in Badehose zeigt, der in unnachahmlichen Haltung dem Betrachter im Vorbeigehen ein Geheimnis – oder aber nur etwas Freches – zuzurufen scheint. Vielleicht aber meditiert er nur, mit geschlossenen Augen. Melancolia ist auch der Titel eines Stichs von Albrecht Dürer, der mich von jeher fasziniert hat. Melancholie wird heute weitestgehend durch den Begriff Depression ersetzt.

Melancolia ist das jüngste Buch des Rumänen Mircea Cărtărescu, der wichtigste Schriftsteller seiner Heimat und als Kandidat für den diesjährigen Literaturnobelpreis benannt. Er wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf; sein spiegelbildlicher Zwillingsbruder verstarb im Kleinkindalter. Die Erzählungen in Melancolia atmen in jeder Zeile Einsamkeit und Verwaisung, aber auch Verwunderung und Staunen über das blanke Dasein. Man merkt in den Erzählungen, dass sich der Autor zeitlebens mit Poesie beschäftigt hat.

Der Prolog des Buches entführt uns in eine kaleidoskopische Traumwelt, die einem Bild M. C. Eschers entsprungen scheint, in der der Protagonist das Universum zum Tanz herausfordert. Im Hauptteil wird die melancholische Welt des autistisch erscheinenden Jugendlichen ausgebreitet. In allen Details werden die Stimmungen visualisiert, so dass man Innen nicht mehr vor Außen unterscheiden kann. Nur in kleinen Portionen lassen sich die Passagen verdauen ohne, dass Einem schwindlig wird; die Orientierung verliert.

Während Mutter und Vater nur als imaginierte Überpersonen auftauchen, trifft der Erzähler erst im Mittelteil des Buches auf einen echten Menschen, ein gleichaltriges Mädchen, in dessen Gegenwart er sich wirklich fühlt; fast lebendig. Durch das feminine Gegenüber erhält er eine Identität und kann sich, sein Dasein, seine Gefühle und adoleszenten Unsicherheiten erstmalig spiegeln. Unbekannte Sehnsüchte erwachen in ihm, die zu atemberaubenden Schilderungen einer metamorphen Wandlung auf dem Weg zum Erwachsen führen.

Der Epilog schließt am Ende den Kreis zum Tanz des Prologs. Zusammen mit dem Erzähler durchs All taumelnd, ahnen wir zu wissen, dass wir nichts wissen und ewig suchen werden, ohne je ans Ende zu gelangen. Ich lese wie ein Verdurstender auf der Suche nach Erlösung. Die letzten Worte lassen mich in Tränen zerfließen. Wer Freude daran hat, sich an philosophischen Gedankenströmen und mittels Sprache erzeugten synästhetischen Bildern und Stimmungen zu berauschen, sei dieses außergewöhnlich poetische Buch empfohlen.

Hier noch einige Goldkörner aus dem Text:

„Die Küche war hell, am Morgen beinahe durchsichtig, wurde leblos gegen Mittag und wie eine Zeichnung, während abends sich das Licht darin beinahe blutrot verfinsterte und die Wände mit dunkel bernsteinfarbenen Streifen überzog. Manchmal verharrte das Kind stundenlang, um den Einfluss dieser Lichtveränderungen auf das Muster des Wachstuchs auf dem Küchentisch zu beobachten: Stieglitze, Kanarienvögel, blaue Vögel mit unbekanntem Namen, die sich mit Maden und Hirschkäfern abwechselten. Er hatte es geschafft, den genauen Zeitpunkt zu erwischen, an dem die Zeichnung dreidimensional wurde und sich so schön über dem Tisch erhob, dass man glauben mochte, die Insekten und Vögel seien lebendig. Spät abends, wenn die Sonne hinter der Fabrik versank, blieb von dem Wachstuch nur noch ein verdämmernder Glanz im Halbschatten der Stube sowie der plötzlich wie eine aufgeblühte Magnolie in der ganzen Küche sich ausbreitende chemische Geruch.“

„Unbegreiflich welkte das Licht auf den Abend hin.“

„Im Flur herrschte eine matte Stille von vor dem Erscheinen der Ohren auf der Welt.“

„Und nun begannen die Schatten auch noch zu sprechen, mehr noch, mit hoher und triumphierender Cembalo-Stimme zu singen, denn der Junge, über sie gebeugt, das Haar herabbaumelnd und glänzend, sprach nun, sang nun mit zwei Stimmen zugleich, als hätten sich in seiner kleinen rosa Kehle die Stimmbänder getrennt und unterschiedliche Partituren überreicht bekommen.“

„Er schaute sie vor allem total verwundert an, wunderte sich nicht allein über ihre Haare aus rotem Draht, die in alle Richtungen abstanden, sondern auch über die Tatsache, dass sie sprach, dass sie ihre Finger bewegen konnte, dass ihr Herz schlug, dass sie, wenn sie durch den Hof ging eine Strecke zurücklegte, dass sie jeden Tag mit ihm eine halbe Stunde älter wurde.“

„Die Luft strömte wie ein sehr schnelles Wasser durch den Canyon der leeren Straße. Den feuchten Fassaden fehlte der gewohnte Kontrast von Licht und Schatten: Sie wirkten verdrießlich, da und dort von einem ungesunden Ausschlag befallen.“

„… wo nähmen sie die Wärme eines Atemzugs her, den es braucht, um den kristallinen Film aufzutauen, damit die Wörter von einem Mund zum anderen zirkulieren und lebendig werden können?“

Und, da ich kein Rumänisch kann, darf ich nur mutmaßen, dass dem Übersetzer Ernest Wichner eine meisterhafte Übersetzung gelungen ist. Leider sind allerdings der deutschen Schlusskorrektur mehr als zwei-drei Kleinigkeiten durchgerutscht.

Eine Bemerkung noch: Ich habe Melancolia als eBook gelesen. Abwechselnd auf drei verschiedenen Endgeräten (Computerbildschirm, Notepad und Smartphone). Immer häufiger lese ich digital, nicht nur weil ich bequemer zitieren kann, sondern weil ich meine, damit nachhaltiger zu lesen. Aber ist das wirklich so? Wenn ich den Stromverbrauch aller Stunden, die ich lese, zusammenrechne – zusätzlich noch die Energie, die nötig ist, um das eBook zur Verfügung zu stellen, herunterzuladen und zu speichern; kommt da am Ende der Ökobilanz nicht doch mehr zusammen, als bei der Herstellung und dem Vertrieb eines gebundenen Exemplar des Buchs verbraucht wird?

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Andere Rezensionen von Melancolia:

https://www.perlentaucher.de/buch/mircea-cartarescu/melancolia.html
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/plus241181583/Mircea-Cartarescus-Melancolia-Nobelpreiswuerdiges-Erzaehlen.html
https://www.sn.at/kultur/allgemein/symbolbehaftete-maerchen-mircea-cartarescus-melancolia-127552399
https://www.lovelybooks.de/autor/Mircea-Cartarescu/Melancolia-4849458804-w/

Cover Artist Daniel Wimmer https://www.wida-art.com

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