DREAMBOOK

Buchbesprechungen – keine Verrisse …

Erzählende Bilder

Zen des Daumenkinos

Es als „Büchlein im Postkartenformat“ zu bezeichnen, trifft nicht ganz den Kern. Dieser schneeweisse, bibliophile Ziegelstein wiegt fast ein ganzes Pfund (482g) und ist mit seinen mehr als 500 Illustrationen nicht minder inhaltsschwer. Das Layout ist liebe- und sinnvoll zurückhaltend gestaltet und gibt den einzelnen Bildern den erforderlichen Raum zum Atmen. Bereits die von Luc Sante sehr gut geschriebene und von Stefan Kleiner nicht minder gut übersetzte Einleitung gibt einen guten Vorgeschmack auf das, was einen auf den folgenden Seiten erwartet: ein Meisterwerk des grafischen Storytelling – angesiedelt irgendwo zwischen Cartoon, Comic-Strip und Droodle. Minimalistische Strichzeichnungen, die kleine Geschichten erzählen. Mich erinnern sie unmittelbar an den deutschen Klassiker „Vater und Sohn“ von Erich Ohser alias e.o.plauen.

Erzählende Bilder
Sequenzielle Zeichnungen aus dem NEW YORKER
Richard McGuire
aus dem Englischen von Stefan Kleiner
DuMont, 2016
gebundene Ausgabe, 584 Seiten
10,3 x 4,3 x 15,5 cm
EUR 25,-

Urspung dieser gezeichneten Geschichten sind sogenannte Vignetten, die Richard McGuire (RMG) seit vielen Jahren in der Zeitschrift NEW YORKER exzellent ausführt. Vignetten sind grafische, dekorative oder illustrative Elemente, die aus den analogen Zeiten des Journalismus stammen und am Rande, zwischendurch oder am Ende eines Artikels die Rolle eines Auflockerers oder Lückenfüllers spielten. Heute haben sie sich zu einer seltenen Kunstform entwickelt.
Die genialistische Reduktion des Dargestellen auf das Wesentliche lässt Grafiker und Zeichner vor Neid erblassen; hier ist ein Meister am Werk. Puristisch und voller Andeutungen und magischer Vibration im Weißraum, zwischen den einzelnen Strichen. Illustrationen und Logos aus Linien gleicher Stärke, sogenannte Monolines sind derzeit en vogue.

Manche der Geschichten kommen direkt aus dem Alltag mit seinen grotesken Situationen. Sie erinnern an die Standbilder eines Daumenkino. Andere sind konzeptionelles Kopfkino und in sich so stimmig und abgeschlossen, dass sie ohne den umgebenden Kontext auskommen und einen ganz besonderen Augenblick wiedergeben. Meine Lieblinge sind die Stilleben und „plauderhaften Gegenstände“, „Auf dem Tisch“, „Vogelkäfige“ und „Oben ist es laut“. Die Geschichten „Last“ und „Geburt“ am Ende des Buches überraschen durch einen Stilwechsel: Die erste in Grautönen mit räumlich dargestellten Objekten, die zweite in einer Mischung aus Grautönen und Strichillustration. Beide sehr gelungen!

Wenn Sie jemandem mit grafischem Gespür und feinsinnigem Humor eine Freude machen wollen, könnte dies Buch das richtige Mitbringsel sein.

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